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Warum eine kritische Gestaltung von Digitalität eine andere Bildung(ssteuerung) braucht

Ein Kommentar von UNBLACK THE BOX

Wer aktuell in die öffentlichen Debatten blickt, dem wird ein düsteres Bild vermittelt: Das Bildungssystem stehe kurz vorm Kollaps[1]; die Zustände seien hochgradig besorgniserregend und würden auch absehbar nicht besser. Dramatischer Lehrkräftemangel, fehlendes Personal in der sozialpädagogischen Arbeit und im Ganztag, bereits seit Längerem sinkende Kompetenzwerte von Schüler*innen bei Tests wie dem IQB-Bildungstrend[2] bei zeitgleich zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten, wachsenden Zahlen von Gewalt und Rassismus. Hinzu kommen marode Gebäude sowie viel zu wenig Zeit, um den einzelnen Schüler*innen in ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. Über allem schwebt eine drückende Erschöpfung, nicht nur bei den Lehrkräften, sondern ebenso bei inzwischen immer mehr Kindern und auch bei vielen Eltern. Wer den Blick etwas erweitert, findet ähnlich katastrophale Situationen in der frühkindlichen Bildung, an Hochschulen – wer hat schon mal versucht, mit über 1000 Studierenden in einer Vorlesung in ernsthaften Dialog zu treten? –, aber auch in der Bildungspolitik (die von einem Großprogramm zum nächsten jagt) und in vielen Behörden (die diese Programme binnen kürzester Zeit umsetzen sollen).

Es ist wahrlich kein Geheimnis, dass (konstante) Druck(erhöhung), Zeitmangel und daraus folgende Erschöpfung denkbar schlechte Voraussetzungen für jedwede Form bildungsorientierter Auseinandersetzung, aber genauso für das Heben innovativer Potentiale sind. Und nicht anders verhält es sich, so unsere Haltung, beim Thema Digitalität. In Anlehnung an Stalder[3] meint Digitalität hierbei die wachsende Durchdringung unserer Gesellschaft mit Datafizierung und algorithmischen Entscheidungssystemen, mit hochdynamisch-hybriden Infrastrukturen der Kommunikation und der globalen Technologieentwicklung – z.B. KI-Infrastrukturen, in denen es bei allen Potentialen genauso um die Ausbeutung regionaler (Arbeits-)Ressourcen mit kolonialen Ideentraditionen und datenkapitalistischen Geschäftsmodellen geht[4] –, aber auch mit ganz neuen Formen der Kollektivierung. Entsprechend gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Digitalität und den multiplen politischen Krisen, mit denen unsere Gesellschaft zunehmend konfrontiert ist und unter denen auch das Bildungssystem massiv zu leiden hat. Aber genauso umgekehrt: Eine kritische Auseinandersetzung mit Digitalität ist unserer Ansicht nach entscheidend dafür, derartigen Krisen begegnen zu können. Hierfür braucht es vor allem zwei Dinge: Zum einen eine Bildungssteuerung, die sich nicht in einer datengetrieben und outputorientierten Optimierungslogik erschöpfen darf, sondern Räume innerhalb und außerhalb von Bildungsinstitutionen schaffen und sichern muss, um die mit Digitalisierung einhergehenden sozialen, kulturellen oder ökonomischen Transformationen als solche zu begreifen und mit ihnen kritisch-reflektierend umzugehen. Zum anderen sind Prozesse der Datafizierung als zentraler Gegenstand der politischen Bildung im Rahmen entsprechender Bildungsangebote zu fördern, und zwar viel mehr als dies bisher der Fall ist. Derartige (daten-) politische Bildung darf sich gleichermaßen nicht abspeisen lassen mit solutionistischen Träumen – z.B., dass eine „ethisch faire KI“ ermöglicht wird, wenn denn nur genug gesellschaftlich benachteiligte Gruppen beteiligt werden –, sondern sie muss grundsätzlicher in Frage stellen, grundsätzlicher Alternativen denken und einfordern.

Hält man sich diese Zusammenhänge vor Augen, ist hochinteressant, dass zwar immer mehr bildungspolitische Akteure in den letzten Jahren den Digitalitätsbegriff mit viel Enthusiasmus aufgreifen und als zentrale Weiterentwicklung des Diskurses darstellen, sie die Kernbedeutung (daten-)politischer Bildung dabei aber ebenso ignorieren wie die Notwendigkeit einer anderen Bildungssteuerung. Im Gegenteil lässt sich aktuell beobachten, wie der Digitalitätsbegriff und seine eigentlich mit ihm zusammenhängenden Reformansprüche derart „eingedampft“ werden, dass sie bisherige hierarchische Strukturgefüge möglichst nicht in Gefahr bringen, sondern maximal in Anpassungen („Optimierung“) des bereits Gegebenen resultieren.

Im Bildungsbereich bedeutet dies etwa, dass zwar radikale Reformen des Bildungssystems angesichts von (und durch) Digitalität gefordert werden, diese aber in derselben kleinschrittigen Kompetenzvermessung/-testung, in denselben engen Zeitkorsetten, sowie in denselben statischen Meilensteinplänen und Optimierungszyklen abbildbar sein sollen. Dabei zeigen genau diese Instrumente (siehe Bildungstestresultate) aktuell deutlicher denn je, dass die großen Kompetenzgewinne bzw. das „Rüsten für die Zukunft“, welches man sich durch die massive Verlagerung von (Finanz-, Personal- und Forschungs-) Ressourcen auf „neue Steuerung“ erhoffte, so nicht eingetreten sind. Von all den unintendierten Effekten der Outputsteuerung einmal abgesehen, die in der kritischen Bildungsforschung in den letzten Jahren umfassend untersucht worden sind, aber bislang ebenfalls keinerlei bildungspolitisches Umdenken bewirkt haben. Und so wird auch jetzt immer weiter an denselben Instrumenten und Strategien festgehalten und die sinkenden Testwerte mit noch mehr Fokus auf Basiskompetenzen und möglichst frühe bzw. noch umfangreichere Vermessung (für die der digitale Bildungsmarkt höchst attraktive Technologien bereithält) beantwortet. Notwendig wäre hingegen jedoch, wie gesagt, die immer weiter voranschreitende und in diesem Sinne hegemonial positionierte Datafizierung des Bildungssystems selbst ebenso kritisch in den Blick zu nehmen und ernsthaft Alternativen zu denken. Derartige Alternativen gibt es im Bereich der Bildungsforschung nicht nur traditionell zu Hauf, sondern auch zunehmend im Bereich von Digitalität (z.B. im Bereich kritischer Designstudien, Ansätze des Data Feminism, etc.). Gleichzeitig gilt es,  öffentliche Institutionen wie Schulen und Hochschulen auch mit einer dezidiert (daten-) politischen Perspektive zu stärken, d.h. als sichere Orte, die Ressourcen und Fürsorge bereithalten, um mit allen demokratischen Alternativen (daten-)gerechtere Bildung zu entwickeln und zu erproben. Nur hierdurch kann auch der wachsenden Institutionenskepsis und -kritik, die Technikutopien, Individualisierung und Privatisierung öffentlicher Aufgaben zunehmend mit sich bringen, langfristig begegnet werden.

Es sind auch solche Ansätze, die wir bei UNBLACK THE BOX immer wieder versuchen in Workshopformate oder Projekte mit Schulen einzubringen. Und immer wieder hören wir: „Super toller Ansatz! Super wichtig! Regt total zum Umdenken an!“. Genauso hören wir jedoch: „Leider haben wir gerade tausend wichtigere Sachen auf der Liste…“ oder „In diesem Bildungssystem lässt sich das niemals umsetzen…“. Und während wir einerseits großes Verständnis für derartige Reaktionen haben, so glauben wir anderseits, dass wir einer gefährlichen Milchmädchenrechnung aufsitzen, wenn wir meinen, wir könnten diese Themen angehen, wenn wir erst genug optimiert haben.


[1] https://www.news4teachers.de/2023/04/kollaps-des-bildungssystems-grundschule-meldet-dass-40-kinder-wohl-die-erste-klasse-wiederholen-muessen-nicht-schulreif/

[2] https://www.kmk.org/aktuelles/artikelansicht/iqb-bildungstrend-2022-kompetenzrueckgaenge-in-deutsch-aber-weitere-fortschritte-in-englisch.html

[3] Stalder, F. (2021). Was ist Digitalität?. In: Hauck-Thum, U., Noller, J. (eds) Was ist Digitalität?. Digitalitätsforschung. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62989-5_1

[4] Crawford, K. (2021). The atlas of AI: Power, politics, and the planetary costs of artificial intelligence. Yale University Press.