Ein Kommentar von UNBLACK THE BOX-Mitglied Sieglinde Jornitz
Der folgende Text ist eine Zusammenfassung eines Artikels, der unter dem Titel „Wissenschaft als Argumentationsverzicht. Über die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK und ihre Veröffentlichungen“ im Heft 69 der Zeitschrift Pädagogische Korrespondenz (S. 40-58) erschienen ist.
Im Herbst 2020 wurde die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) von der Kultusministerkonferenz (KMK) eingerichtet. Das Gremium tritt als Beratungsorgan der politisch für das Bildungswesen verantwortlichen Bundesländer auf und spricht – dem eigenen Anspruch nach – auf wissenschaftlicher Evidenz fußende Empfehlungen aus. Diese betreffen immer wieder auch den Einsatz von digitalen Instrumenten im Bildungsbereich. Schaut man sich die bisher von der SWK veröffentlichten Stellungnahmen, Gutachten und Impulspapiere1 an, dann fallen zwei Aspekte auf.
(1) Erstens hat die SWK ein spezifisches, nicht von der gesamten Disziplin der Bildungsforschung und Erziehungswissenschaft geteiltes Verständnis der Aufgaben und Ziele von Bildungseinrichtungen. Ihre starke Orientierung an Kompetenz und an internationalen und nationalen Assessments führen zu einem Unsichtbar-Werden der von Lehrerinnen, Erziehern und anderem pädagogischen Fachpersonal zu bewältigenden pädagogischen Aufgaben.
(2) Zweitens nimmt die SWK für sich in Anspruch, dass ihre Stellungnahmen und Gutachten auf der jeweils aktuell gültigen wissenschaftlichen Evidenz fußen, die jedoch bei näherer Betrachtung oftmals weniger eindeutig sind, als benötigt oder erwünscht.
Zu 1:
Das SWK-Gutachten zur Grundschule „Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern. Perspektiven für die Grundschule“ wurde am 9. Dezember 2022 veröffentlicht und hat in der Disziplin viel Aufsehen erregt (vgl. DGfE 2023; Offener Brief 2023). Im Gutachten wird ohne weitere Begründung als gegeben vorausgesetzt, dass die Kernaufgabe der Grundschule in der Erreichung von Kompetenzzielen, nicht auf der Vermittlung von Bildungsinhalten liege. In der Folge ist im Gutachten viel von basalen Kompetenzen die Rede, die oft als physiologische Entwicklungsprozesse gedacht werden, ohne angeben zu können, wie Lehrkräfte auf diese Einfluss nehmen können. Zugleich wird die vormals pädagogische Ausrichtung der Lehrhandelns auf eine eher diagnostische umgepolt. In dieser Perspektive sind LehrerInnen nicht mehr für fachliche Vermittlung zuständig, sondern sie teilen aus: Tests zur Diagnose, Materialien für die Bearbeitung und Tests für die Evaluation. Dieser Dreischritt entkoppelt das Handeln der Lehrkräfte von der eigenen Involviertheit in das Geschehen. Grundschule gerät in der SWK-Perspektive zu einem Fördercamp, aber nicht zu einer pädagogischen Institution, in der Entwicklungen von Heranwachsenden begleitet werden.
Zu 2:
Die von der SWK formulierten Empfehlungen erheben den Anspruch evidenzbasiert d.h. wissenschaftlich begründet zu sein. Anhand der SWK-Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel von 2023 kann gezeigt werden, wie brüchig die Evidenz ist. Eine der Kernaussagen ist, dass geringere Unterrichtszeit in einem Fach zu geringeren Schulleistungen in diesem führt. Dieser rein logisch überzeugende Zusammenhang wird von der SWK jedoch empirisch geführt. Allerdings kann sie dabei nicht auf weitreichende Studien zurückgreifen, sondern stützt sich auf ein working paper und auf eine in einem Journal veröffentliche Metastudie. Schaut man sich diese Publikationen näher an, dann sind die AutorInnen weit weniger eindeutig in ihren Erkenntnissen. Sie zeigen auf, wie schwierig es ist, eine direkte Beweiskette zwischen Unterrichten und SchülerInnenleistungen zu ziehen, wenn nicht die jeweilige Klassenarbeit gemeint ist, sondern ein Test, der nicht auf das vorher tatsächlich Unterrichtete ausgerichtet ist. D.h. die Evidenzen, die vorliegen, führen eher in die Probleme hinein, die Wissenschaft selbst erzeugt, als dass sie sich für Handreichungen für die Praxis eignen. Die dann aufgelisteten, konkreten Empfehlungen, wie z.B. die Erschließung von Beschäftigungsreserven oder die Gesundheitsförderung mittels Achtsamkeitstrainings können nicht über Evidenzen im Hinblick auf ihre Wirkungen belegt werden.
Kurzum: Die SWK wird in den nächsten Jahren immer wieder Empfehlungen für das Bildungssystem aussprechen. Man sollte diese jedoch durch die Brille, die sie sich selbst gegeben hat, betrachten. Politisch wird eine Eindeutigkeit verlangt, die wissenschaftlich (noch) nicht hergestellt werden kann. Dies verweist darauf, wie selektiv in diesen Gutachten für die eigene Position argumentiert wird. Wissenschaftlich entscheidend wäre zu klären, welche Bedingungsgefüge im Unterrichtshandeln am Werk sind. Und politisch ginge es immer auch darum, offenzulegen, welches Ziel man (auch auf Basis des Gutachtens) verfolgt und was man sich von den jeweiligen Maßnahmen erhofft. Zur Sprache käme dann die normative Verfasstheit des pädagogischen Tuns selbst. Dieser ist nicht allein empirisch, aber erst recht nicht durch Argumentationsverzicht beizukommen.