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LernApp-Analyse: Wie Nutzungsrealität und reale Alternativen einbezogen werden können

Ein Beitrag von UNBLACK THE BOX-Mitgliedern Sieglinde Jornitz und Paula Bleckmann

Zu den Schwerpunkten unserer Arbeit gehören (1) die Analyse von LernApps unter pädagogischen Gesichtspunkten sowie (2) der Vergleich mit alternativen analogen Lernszenarien, die ähnliche Lernziele wie die Apps verfolgen.
(1) Bei der Analyse von LernApps haben wir nicht nur deren Struktur herausgearbeitet, sondern ihren Einsatz auch im Unterricht analysiert, d.h. untersucht, wie sich die Schülerinnen den Aufgaben der LernApps zuwenden. So können wir nun in Seminaren und Workshops die Analyse der Apps selbst (was passiert am Bildschirm?) mit der Praxis-Analyse auf Performanzebene (was passiert darum herum, wie werden sie genutzt?) verbinden. Es gilt dabei, das vermeintlich Offensichtliche der digitalen Plattformen durch einen Realitätscheck aufzubrechen. Einige Ergebnisse: LernApps repräsentieren das jeweilige Unterrichtsthema vor allem durch Aufgaben. Diese sind eher in einer Prüfungslogik des abrufbaren Wissens konzipiert als dafür, ein Interesse für ein Phänomen zu wecken. Wenn Schülerinnen beim Handling mit der LernApp beobachtet werden, dann merkt man, dass die Plattformen für die Einzelnutzung programmiert wurden. Lösen Schülerinnen zu zweit die Aufgaben, dann müssten sie eigentlich argumentieren, welche Lösung nun die richtige ist. Dies wäre an die erst zu erlernende Fachsprache gekoppelt und daran, Denkbewegungen des jeweils anderen verstehen zu wollen, sich auf sie einzulassen. Dies findet jedoch fast nicht statt, bzw. bedarf einer gesonderten pädagogischen Anleitung. Ebenso voraussetzungsvoll ist der Umgang mit einer Fehlerrückmeldung durch die App. Bei den Unterrichtsanalysen fiel auf, dass der Umgang mit Fehlern vor allem lesend passieren muss. Letztlich basieren die Funktionen der genutzten LernApps auf Text, wogegen Geräusche und Animationen („umherspringende bunte Püppchen“) eher der Dekoration dienten. Dies stellt nicht nur leseschwache Schülerinnen vor Probleme, sondern auch viele andere. Denn sich etwas zu erklären, findet im Modus des Diskurses statt – aber dies wird durch die LernApps nicht unterstützt.
(2) Ebensowenig wird multisensorisches, erfahrungsbasiertes Erleben mit unmittelbarer Fehlerrückmeldung, wie sie reales „Material“ (Bauklötze, Hammer, aber auch eine Postkarte mit Randlochcodierung) liefern kann, durch die LernApps unterstützt. Das liest sich fast trivial, wurde jedoch von vielen unserer Seminarteilnehmenden erschreckenderweise gar nicht mehr initiativ thematisiert, weshalb wir neue Workshops und Weiterbildungsangebote konzipiert haben. Diese nehmen zum engen Fokus der LernApp-Analyse den deutlich weiteren Fokus der vergleichenden Technikfolgenabschätzung hinzu. Dabei wird zunächst ein analoges Lernszenario vorgestellt. Konkret war dies die Planung, Durchführung, Auswertung und Ergebnisdarstellung einer quantitativen Befragung (Lernziel Datenkompetenz für Primarschüler*innen) mithilfe von Postkarten mit Randlochcodierung, Stricknadeln fürs Auszählen, Tafel und Kreide für die Ergebnisdarstellung. Im Anschluss werden zwei digitale Lernszenarien vorgestellt und erlebbar gemacht, die dasselbe Lernziel haben. Konkret waren dies die Lernsoftware Tinkerplots sowie die Fragen zum Thema 10 (Daten und Wahrscheinlichkeiten) aus der Anton App. Bewusst haben wir ein Lernziel gewählt, das von den Teilnehmenden typischerweise als „nur digital vermittelbar“ angesehen wird. Bei der anschließenden vergleichenden Analyse der drei Lernszenarien wurden neben den UBTB-Checklistenfragen auch ökologische Aspekte (Energieverbrauch bei LernApp-Nutzung vs. Papierverbrauch), philosophische Aspekte (Auswirkungen aufs Menschenbild), explizite/implizite Botschaften ans Setting Familie („am Bildschirm lernt dein Kind“?!) und damit Einflüsse auf außerschulische Mediennutzung, Gender-Gerechtigkeit, Eignung für Binnendifferenzierung („separierender“ Individualisierungsansatz mit LernApps vs. „gemeinschaftsbildender“ Ansatz mit Zugriff auf unterschiedlichen Aneignungsniveaus) thematisiert.
Unserer Erfahrung nach bietet beides einen großen Mehrwert und sollte unbedingt in die Zukunft der „digitalen Lehrkräftebildung“ aufgenommen werden: es gilt, die Performanzebene und die vergleichende Analyse (digitale vs. analoge Lernszenarien) bei der Betrachtung von LernApps hinzuzunehmen.