Ein Schreibgespräch zwischen Izabela Czarnojan, Lehrerin, Prozessbegleiterin und Fortbildnerin und Ina Sander, Wissenschaftlerin an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg
Ina: Liebe Iza, vor ein paar Jahren wollten wir ja schon einmal in einem Workshop für Lehrkräfte unsere beiden Perspektiven zu kritischer Datenbildung – einmal aus der schulischen Praxis und einmal aus der Wissenschaft – zusammenbringen. Damals kam unser Workshop ja leider nicht zustande, weil es zu wenige Anmeldungen gab. Jetzt haben wir uns überlegt, dass wir noch einmal probieren, diese Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis zu schlagen, und zwar in Form eines Schreibgesprächs. Vielleicht kannst du ja einmal anfangen, indem du etwas von deinen Erfahrungen aus der schulischen Praxis berichtest. Gibt es da Interesse an dem Thema „Kritische Datenbildung“?
Iza: Die Antwort ist eindeutig: Ja. Das Interesse und die große Bedeutsamkeit des Themas finden sich in den vielen Gesprächen und zahlreichen Diskussionen unter den Lehrer*innen wieder. Die Antwort auf deine Frage fällt komplexer aus, wenn es um die Umsetzung des Themas im gelebten Schulalltag geht. Hier klafft eine Lücke zwischen der diskutierten und der gelebten Gewichtung des Themas auf. Auf der Suche nach Begründung der existierenden Lücke können hauptsächlich drei Aspekte genannt werden: Zum einen die sehr umfassenden (Fach-)Bildungspläne sowie der komplexe Unterrichtalltag und als Konsequenz die fehlende Zeit-Ressource, um das Thema adäquat mit Schüler*innen zu erörtern und zu reflektieren. Der zweite Aspekt ist die teilweise fehlende Expertise, was die doch sehr vielschichtige Thematik „Kritische Datenbildung“ angeht (siehe Beispiel KI und Schule) und zum dritten muss betrachtet werden, worauf Bildungspolitik den Fokus beim Thema Digitalisierung legt (im Moment ist es immer noch stärker die Anwendungskompetenz von Hard- und Software, als die Reflexionsebene bzw. digitale Mündigkeit, wozu eben auch das Thema: Kritische Datenbildung gehört.
Deine Frage zeigt, dass es für dich ein Anliegen ist, dass Kritische Datenbildung auch in Schulen stattfindet. Warum ist das für dich, als Wissenschaftlerin, wichtig? Und wie genau definierst du Kritische Datenbildung?
Ina: Das stimmt, das ist mir sehr wichtig. Für mich lässt sich bei Kritischer Datenbildung die Wissenschaft einfach nicht ohne die Praxis denken. Das Forschungsfeld der kritischen Datenforschung bringt ständig neue spannende Erkenntnisse darüber hervor, wie Datentechnologien unsere Gesellschaft verändern. Schon als ich selbst dieses Feld kennengelernt habe, dachte ich: das müssten doch eigentlich alle Menschen wissen! So kam ich zu meinem Forschungsthema: Bildung über Datafizierung. Gleichzeitig kann die Wissenschaft aber auch sehr viel von der pädagogischen Praxis lernen. Als ich mein Konzept der Kritischen Datenbildung (Critical Datafication Literacy) entwickelt habe, habe ich daher mit Ersteller*innen von Bildungsressourcen zum Thema und mit pädagogischen Fachkräften gesprochen und viel von ihren praktischen Erfahrungen gelernt. Critical Datafication Literacy verfolgt demnach drei Ziele: ein systemisches Verständnis von Datafizierung und den Folgen dieser Transformation zu fördern, kritisches Nachdenken über digitale Technologien anzuregen, und Lernende zu befähigen, mündige Entscheidungen über die eigene Technologienutzung zu treffen sowie kollektive Handlungsoptionen zu kennen.
Am liebsten würde ich eine solche Kritische Datenbildung natürlich überall fördern, aber ich denke die Schule ist einer der wichtigsten Orte überhaupt. Du hast doch auch schon erste Erfahrungen damit gemacht, solche Perspektiven im Unterricht zu fördern? Wie hat das funktioniert?
Iza: Ja in der Tat habe ich viel dazu in der Schule gemacht. Ich möchte aber auf zwei Beispiele eingehen, die verdeutlichen, wie wichtig die Thematik in der Schule ist. Zum einen ist das ein Beispiel aus dem Psychologieunterricht in der Stufe 11. Im Zusammenhang des Themas Identität und Selbstbilder habe ich mit den Schüler*innen die Seite www.hownormalami.eu bearbeitet. Das Interessante war, dass die Schüler*innen (obwohl sie vorher schon das Thema auf der Meta-Ebene reflektiert haben) sich von den Selbstoptimierungsvorgaben kaum lösen, bzw. emotional entziehen konnten.
Das zweite Beispiel ist aus der Grundschule, Klasse 3. Ich habe (innerhalb einer Unterrichtseinheit zur Medienkompetenz und Mediennutzung) einen Projekttag mitgestaltet. Es war schon sehr erschreckend, dass die Grundschüler*innen in der dritten Klasse fast alle sich auf solchen Plattformen wie TikTok, WhatsApp, Instagram bewegen. Im Klassengespräch haben die Schüler*innen viele „Erwachsenenaussagen“, ohne innere Beteiligung, wiedergegeben: Ja, das darf man nicht, da muss man aufpassen, da kann man abhängig werden, u.Ä.. Erst in der intensiven, praktischen Arbeit (sie erstellten „eine Anleitung“ für die Zweitklässler) wurde deutlich, wie häufig die Schüler*innen auch Ängste erlebt haben (Kettenbriefe, Angst-machende Videos, Drohungen auf TikTok, usw.).
An den zwei Beispielen wird, finde ich, sehr deutlich, wie unglaublich wichtig das Thema auch im Schulalltag ist, auch schon in den Grundschulen.
Jetzt habe ich an dich eine Frage: ich weiß, dass du einen Leitfaden genau dazu erstellt hast. Magst du ein bisschen genauer etwas zu dem Leitfaden sagen, was ist die Idee und wie können die Kolleg*innen diesen in den Schulen nutzen?
Ina: Deine Erfahrungen aus der Schule finde ich super spannend. Einerseits toll zu sehen, wie interessiert die Schüler*innen waren, aber ich finde die Beispiele zeigen auch eindrücklich, wie dringend wir mehr kritisch-reflexive Bildung über Datentechnologien in den Schulen (und in anderen Kontexten) brauchen. Das passt zu meinem Leitfaden: das Ziel des „Leitfaden für kritische Datenbildung“ ist es, pädagogische Fachkräfte darin zu unterstützen, eine solche Bildung zu fördern. Meine Forschung hat gezeigt, dass viele Pädagog*innen Interesse an Digital- und Datenthemen und auch teils schon Erfahrung damit haben, aber sich besseres Lehr- und Lernmaterial sowie leichteren Zugang zu Informationen und Materialien wünschen. Der Leitfaden, den ich im Rahmen meiner Promotion gemeinsam mit der NGO „Privacy International“ entwickelt habe, möchte pädagogischen Fachkräften alles an die Hand zu geben, was sie brauchen, um Kritische Datenbildung zu fördern. Er enthält allgemeine Informationen zur Datafizierung und dem Wissensstand der Bevölkerung, konkrete Ansätze und Methoden für Kritische Datenbildung, Tipps und Hinweise zu Datenbanken zur Auswahl von passenden Ressourcen sowie Empfehlungen zum Erstellen eigener Materialien. Außerdem wird jedes Kapitel von kurzen Video-Zusammenfassungen begleitet.
Ich hoffe sehr, dass der Leitfaden damit hilfreich für die Praxis ist! Bisher habe ich in Workshops positives Feedback bekommen, aber den praktischen Einsatz untersucht habe ich noch nicht.
Iza: Liebe Ina, ich habe deinen Leitfaden einigen Kolleg*innen in den Schulen vorgestellt und habe viele positive Rückmeldungen bekommen. Sowohl die konkreten Materialien als auch die Einbindung in den Diskurs zur kritischen Datenbildung wurde als sehr hilfreich gesehen. Ich empfinde den Leitfaden als ein gelungenes Beispiel für unser Vorhaben: „Wissenschaft trifft Praxis“. Die übergeordnete Problematik der fehlenden Zeitressourcen im Schulalltag werden wir wohl nicht auflösen können.
Ina: Danke, das freut mich! Ich würde sagen: es ist hoffentlich ein Schritt in die richtige Richtung, aber es braucht noch mehr. Einerseits definitiv mehr Zeitressourcen für Lehrkräfte, um sich in neue und in Zukunft immer wichtiger werdende Themenfelder einzuarbeiten, bzw. am besten gleich eine Einbindung von Kritischer Datenbildung in die Lehrpläne. Aber ich würde mir auch wünschen, dass sich mehr Wissenschaftler*innen trauen, mit der Praxis zusammenzuarbeiten und es mehr Forschungsprojekte gibt, in denen Wissenschaft und Praxis eng verzahnt werden. Ich glaube, wir können viel voneinander lernen!