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„Auf die Krise waren wir nicht gut vorbereitet!“

Über Corona und Bildung und warum Vorbereitet-Sein viel mehr bedeutet als nur „alles digitalisieren!“

Kommentar von Paula Bleckmann, Professorin für Medienpädagogik und Annina Förschler, Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin.

Anfang Oktober finde ich eine Mail mit Betreff „WICHTIG“ im Posteingang. Sie geht an alle Eltern der 10. Klasse, in die auch mein Sohn geht. Am Mittwoch, so kündigt die Email an, wolle man mit den SchülerInnen einen Plan besprechen. Einen Plan für den Fall, dass Schulen corona-bedingt wieder schließen müssen. Am Donnerstag solle in einer eintägigen Fernlernphase der Plan auf Alltagstauglichkeit getestet werden. Am Freitag gäbe es eine Nachbesprechung in der Schule. Gut zu wissen, denke ich als Mutter. Und nicke anerkennend, als ich weiterlese: Eine solche Strategie sei wichtig, weil der Rückblick aufs Frühjahr gezeigt habe, dass sich die Jugendlichen bei einem erneuten Lockdown mehr Kontakt mit Gleichaltrigen wünschen, als es im Frühjahr möglich war. Sie würden lieber in Präsenz-Kleingruppen lernen und wünschen sich mehr Hilfe für selbstorganisiertes Lernen und Alltagsbegleitung, z.B. durch Lehrkräfte als Online-Tutoren. Und: Sie wünschen sich weniger Online-Lernzeit, weniger Online-Besprechungen, weniger Arbeitsblätter. Als Mailanhang erhalten wir Eltern daher eine Liste zur Einteilung in Präsenz-Dreiergruppen – auf kurze Fahrwege und ausgewogene Zusammensetzung sei geachtet worden.

Am selben Tag schaue ich mir die Abschlussveranstaltung des Hackathons #wirvsvirus an. Immer wieder höre ich: Unsere Schulen waren auf Corona nicht gut vorbereitet; nun müssen wir die Krise als Chance für zeitgemäße Bildung begreifen. Dann hätte ja das Team der 10. Klasse alles richtig gemacht, denke ich: Ein partizipativer, fehlerfreundlicher Vorbereitungsprozess mit Einüben neuer selbstorganisierter Lernformen. Je länger ich aber zuhöre, desto mehr schwant mir: Das ist hier gar nicht gemeint. Vielmehr verwenden die Hackathonier „zeitgemäß“ mit verstörender Regelmäßigkeit als unmittelbares Synonym für „digital/online“. Die für die Präsentation ausgewählten Projekte im Bereich Bildung sind durchweg Online-Projekte: Lern-Apps, Lernorganisations-Software, digitale Vernetzungs- oder Fortbildungs-Tools. Mit einer lobenswerten Ausnahme: Dem Frei Day.
Immer wieder stolpern wir in diesen Tagen über Veranstaltungen wie den Hackathon und hören immer dieselbe Geschichte: Zuerst Frühjahr 2020, die Krise, die Hilflosigkeit und Überforderung. Oftmals personifiziert als „Martin, Grundschullehrer, 29 Jahre, war verzweifelt…“ oder „Denise, dreifache Mutter und alleinerziehend, war komplett überfordert…“. Und dann – die Lösung: Digitalisierung – je schneller, desto besser. Je mehr, desto besser. Worüber wir hingegen leider nicht stolpern: Politische Debatten über die pädagogische und didaktische Sinnhaftigkeit einzelner ‚Lösungen‘ (‚lösen‘ sie überhaupt etwas und, wenn ja, was eigentlich?), Debatten über Technikfolgen, über Folgen für körperliche und psychosoziale Gesundheit, und vor allem: Debatten über sinnhafte analoge Krisen-Konzepte.

Dabei sind diese Debatten aktuell drängender denn je; die aktuelle diskursive Schieflage dramatisch. Wir fordern daher insbesondere die Politik dazu auf, vielfältige(re) Perspektiven in ihre Strategien einzubeziehen. Der Austausch muss nicht nur inter- sondern transdisziplinär sein. Er muss fundierte Forschungserkenntnisse aus unterschiedlichen Fachdisziplinen einbeziehen, von der historischen Bildungsforschung über die Präventionswissenschaft; von Critical Data Studies bis zur Bildungssoziologie. Wir fordern dazu auf, Gelder nicht vorrangig für digitale Infrastrukturen bereit zu stellen, sondern vielmehr gezielt auch analoge, nachhaltige und pädagogisch durchdachte Unterstützungssysteme aufzubauen (bspw. Lehr- und sozialpädagogisches Personal). Dies ist unseres Erachtens dringend notwendig, um nicht im Notfall-Modus zu digitalisieren, sondern aufgeklärt, kritisch und (selbst-)bewusst zu entscheiden und zu gestalten. In der Krise, aber auch über die Krise hinaus! Dafür stehen wir mit unblackthebox.org.

Bei der Gründung vor einem Jahr ahnten wir nicht, dass sich die Relevanz unserer Arbeit derart zuspitzen würde. Umso mehr freuen wir uns über das Interesse an unserem Netzwerk und hoffen, als differenziertere Stimme gehört zu werden!

Paula Bleckmann & Annina Förschler