Gastkommentar von Andrea Donath und Ela Eckert aus dem Vorstand der Deutschen Montessori Gesellschaft e.V.
„Wir erleben zur Zeit die Anfänge eines sich beschleunigenden Prozesses der Einflussnahme auf Erziehung und Bildung durch global agierende Superkonzerne, die Unterricht als Geschäftsfeld entdecken und dabei sind, unser Bild von Schule und Unterricht radikal zu verändern.“1
Das Zitat stammt von dem Erziehungswissenschaftler Olaf-Axel Burow, der in den letzten Jahren verschiedentlich Stellung zu einer notwendigen Veränderung der Schule und zu der Rolle bezog, die digitalen Medien in diesem Veränderungsprozess zukommen könnte bzw. sollte. Im Dezember 2021 erschien mit Bezug zu Burow unter der Überschrift „Montessori reloaded: Die Schule der Zukunft baut auf die Digitalisierung des Unterrichts – und auf eine Pädagogik 3.0“´ ein Beitrag auf news4teachers. Der erste und der letzte Satz in diesem Beitrag fassen das dort vertretene Narrativ gut zusammen: „Die Digitalisierung der Schulen schreitet rasch voran. […] Maria Montessori hätte ihre helle Freude daran.“ Wirklich?
Nachdem wir uns als Einzelpersonen und in der Rolle als Vertreterinnen der DMG (Deutsche Montessori Gesellschaft e.V.) seit Jahren differenziert mit den Vor- und Nachteilen des Einsatzes digitaler Medien im Kontext von Montessori-Bildungseinrichtungen beschäftigt haben, bietet der Beitrag von news4teachers einen willkommenen Anlass, sich von einer undifferenziert digital-euphorischen Sichtweise klar abzugrenzen. Das Redaktionsteam von news4teachers (ein Autor wird nicht genannt) bezieht sich auf zwei ältere Veröffentlichungen, einmal von Olaf-Axel Burow, einmal von Jakob Chammon. Ein pikantes Detail: In der Originalfassung des Artikels von 12/21 wurde Chammon als Schulleiter einer Montessori Schule vorgestellt, in der korrigierten Fassung 04/21 wird er (ohne Kennzeichnung als Korrigendum) richtigerweise als „ehemaliger Schulleiter […], heute geschäftsführender Vorstand des Forum Bildung Digitalisierung“ vorgestellt. Das unterstreicht unsere Befürchtung, dass die Agenda von Chammon und news4teachers nicht in der Förderung von Montessori-Pädagogik besteht, sondern dass die renommierte Reformpädagogin Maria Montessori hier vor den Karren der Bildungsdigitalisierung gespannt werden soll.
Zum Inhaltlichen: Man kann Burow durchaus recht geben in der Auffassung, dass die Pädagogik des Industriezeitalters, in der Alterskohorten nach einem festgelegten Wissenskanon im Gleichschritt und unter Konkurrenzdruck ohne Rücksichtnahme auf individuelle Voraussetzungen und Bedürfnisse unterrichtet wurden, keinesfalls mehr geeignet sein kann, um Kinder und Jugendliche auf das Leben in der heutigen Welt und in einer demokratischen Gesellschaft vorzubereiten. In Bezug auf die Notwendigkeit zur Veränderung und im zweiten Schritt auch bei den zu erreichenden Verbesserungen können wir den Ausführungen zustimmen. Ja, Lernen in der Schule der Zukunft sollte stärker nach individuellen Voraussetzungen und Interessen möglich sein, die Selbststeuerung eigener Lernprozesse als aktive Auseinandersetzung mit Wissensinhalten sowie das Arbeiten in Teams und eine möglichst optimale Entfaltung des individuellen Entwicklungspotentials sollten verbessert werden. Dass diese Ziele sich hervorragend über den Einsatz moderner digitaler Medien erreichen lasse, wie im Beitrag von news4teachersund in den Bildungsdiskussionen der letzten Jahre zunehmend betont wird, bezweifeln wir ausdrücklich. Aus unserer Perspektive ist das Gegenteil der Fall.
Tatsächlich werden die oben genannten Ziele seit mehr als einhundert Jahren in der Pädagogik Maria Montessoris höchst erfolgreich in mehr als 120 Ländern der Welt und in unterschiedlichsten Kulturen und sozialen Kontexten bereits erreicht. Über viele Jahrzehnte ganz ohne den Einsatz digitaler Medien. Wohl gemerkt: In der Montessori-Pädagogik plädieren wir nicht für die totale Ablehnung digitaler Medien. Aber wir stellen bei der Arbeit mit jungen Kindern, mit Grundschulkindern und mit Jugendlichen gezielt die Frage, worin in der jeweiligen Entwicklungsphase und in Bezug auf den Bildungsprozess eines einzelnen Kinders – eben individuell – der Mehrwert oder der Nachteil einer Nutzung digitaler Medien für die Entwicklung des Kindes/des Jugendlichen bestehen kann und entscheiden uns auf dieser Grundlage gegen den Einsatz und die Nutzung von digitalen Medien, oder für einen auf bestimmte Einsatzbereiche beschränkten Einsatz.
Im Folgenden fassen wir das Fazit aus unseren längeren Ausführungen zusammen – getrennt für die drei Entwicklungsphasen E1, E2 und E3 – und gehen abschließend auf einige kritisch-differenzierende Äußerungen zum Verhältnis von Mensch und Technik in den Schriften von Montessori und in den Ausführungen des IT-Experten und Montessori-Kenners Mario Valle ein.
Erste Entwicklungsphase (0 – 6 Jahre). Die Frage, ob die Nutzung moderner Technologien für diese Kinder einen Mehrwert darstellt, muss verneint werden. Sie birgt im Gegenteil die Gefahr, das Entwicklungspotential junger Kinder im Bereich der Sensomotorischen Integration, der Intelligenzentwicklung und des Spracherwerbs zu gefährden bzw. einzuschränken. So ist Bewegung „ein integraler Bestandteil unserer kognitiven Fähigkeiten und die Grundlage für die Entwicklung des Geistes, wie zahlreiche Studien gezeigt haben, die die Funktion und Bedeutung der motorischen Bereiche in der Physiologie des Gehirns neu bewertet haben.“ 2 Der frühe Kontakt mit digitalen Medien begrenzt die so wichtige Verankerung der Kinder in der Realität.
Zweite Entwicklungsphase (6 – 12 Jahre). In dieser Altersstufe ist stets die Frage zu beantworten: Bietet das digitale Werkzeug / Programm, das die Lehrkräfte im Blick haben mögen, eine klare Möglichkeit für intrinsisch motiviertes und konzentriertes Arbeiten für die Kinder? Stellt es also tatsächlich einen Mehrwert dar? Und erscheint dieser Mehrwert im Vergleich zu den Nachteilen (erhöhte Bildschirmzeit der Kinder, bei ohnehin die Empfehlungen weit überschreitenden Nutzungszeiten, ökologische Aspekte wie Strom- und Ressourcenverbrauch durch Geräte, etc.) in einer Abwägung überwiegend? Für die weit verbreiteten „gamifizierten“ Lernumgebungen, die Burow anpreist, wird diese Frage allein schon aufgrund der externe Anreizstrukturen zu verneinen sein, ebenso in vielen – aber nicht allen – Fällen für den Einsatz für die „Recherche“ bzw. als Schlüsselmaterialien, da das eigene Erforschen multisensorisch besser möglich ist. Für den Einsatz als Werkzeug zur Dokumentation wird die Frage – immer im Vergleich mit den etablierten analogen Dokumentationsmöglichkeiten – teilweise zu bejahen sein.
Dritte Entwicklungsphase (12 – 18 Jahre). Für Jugendliche ist sicherlich die Nutzung moderner Technologien als Werkzeug unerlässlich – ergänzend zu den von Montessori vorgeschlagenen selbstverantworteten realen Lernarrangements im Rahmen des „Erdkinderplans“. Aber auch hier ist – wie in der Zweiten Entwicklungsphase – stets die Frage nach dem Mehrwert zu beantworten.
Übergreifend erscheinen uns folgende Überlegungen zum Verhältnis zwischen Mensch und Technik für wichtig. Sie sind sowohl für die Dritte Entwicklungsphase bedeutsam, als auch im Hinblick auf die Selbsterziehung von (Montessori-)Pädagoginnen, die als Erwachsene zu einer stetigen kritischen Auseinandersetzung mit Art und Ausmaß des Einsatzes digitaler Medien aufgefordert sind:
Schon 1932 warnte Maria Montessori „Der Mensch schläft mit all seinen Erfindungen und Errungenschaften am Rande eines Abgrunds.“ Es setze eine moralische Erziehung junger Menschen während eines langen Erziehungsprozesses voraus, die Diskrepanz zu überwinden zwischen dem, was technisch möglich und dem, was verantwortbar sei. Dabei müsse die intrinsische Kraft zu Moral und Gewissen bei jungen Menschen erheblich gestärkt, modelliert und ausgebaut werden. An anderer Stelle heißt es bei ihr: „Das Übel, an dem unsere Zeit krankt, kommt aus dem gestörten Gleichgewicht, das aus dem unterschiedlichen Entwicklungsrhythmus des Menschen und der Maschine resultiert. Die Maschine hat sich beschleunigt entwickelt, während der Mensch zurückgeblieben ist. So lebt der Mensch in Abhängigkeit von der Maschine, obwohl er sie beherrschen müsste.” 3
Montessori war überzeugt davon (und auch in dieser Hinsicht ihrer Zeit weit voraus), dass sich über die zukünftige Gesellschaft wenig Konkretes vorhersagen lasse und dass daher die Stärkung der Persönlichkeit der Jugendlichen die bestmögliche Voraussetzung dafür sei, sich den Herausforderungen ihres Erwachsenenlebens stellen zu können: „Unter diesen sozialen Bedingungen müssen wir uns daran erinnern, dass der einzig sichere Führer der Erziehung darin besteht, die Personalität der Kinder zu fördern. Man muss folglich die menschliche Personalität für alle unvorhergesehenen Eventualitäten vorbereiten, und zwar nicht nur unter dem Aspekt derjenigen Bedingungen, die man mit kluger Voraussicht vorhersehen kann.“ 4
Im November 2021 hielt Mario Valle auf dem Kongress der Deutschen Montessori Gesellschaft einen viel beachteten Vortrag zum Thema ‚Montessori-Pädagogik und neue Medien‘. In der Zusammenfassung seiner Ausführungen gelangte er zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen: In einer Zeit, in der das technische Wissen innerhalb von sechs Monaten veralte, mache es keinerlei Sinn, Kinder auf eine Technologie der Zukunft vorbereiten zu wollen, über die niemand heute etwas wisse. Viel wichtiger sei eine Schule, die Kinder und junge Menschen erzieht mit engagierten Lehrkräften „… die mit Hilfe der ‚nützlichen Spielzeuge‘ [gemeint sind die Montessori-Materialien] von Maria Montessori diesen Bewohner*innen der Zukunft hilft, die Persönlichkeit zu entwickeln, die sie in die Lage versetzt, jede Technologie richtig zu nutzen.“ 5
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1 Burow, Olaf-Axel (2017): Bildung 2030 – Sieben Trends, die die Schule revolutionieren werden. Weinheim: Beltz Verlag
2 Valle, Mario (2022): Montessori-Pädagogik und neue Medien. In: DAS KIND, Heft 70-71, S.49
3 Montessori, Maria (1939/1948): Studien- und Arbeitsplan. In: Von der Kindheit zur Jugend, S. 130
4 Montessori, Maria (1939/1948), A.a.O., S. 102
5 Valle, Mario (2022): Montessori-Pädagogik und neue Medien. A.a.O. S.57-58