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Pädagogik first!?

Bildung, Digitalisierung und Schule im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung

Gastkommentar von Martina Schmerr, Referentin im Bereich Schule des GEW Hauptvorstands.

Am 24. November 2021 lag er vor: der Koalitionsvertrag der neuen Ampel-Koalition. Er umfasst mehr als 150 Seiten und enthält aus bildungsgewerkschaftlicher Sicht mehr, als zu erwarten war. Zum Beispiel ein erfreulich klares Bekenntnis zur Steigerung der Bildungsausgaben und ein Signal in Richtung einer stärkeren Kooperation von Bund und Ländern.
Dass die schulische Chancengleicht Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat, ist an sich schon bemerkenswert. Die Ampelparteien rufen ein „Jahrzehnt der Bildungschancen“ aus und wollen im Rahmen eines „Startchancenprogramms“ insgesamt 8.000 Schulen mit schwierigen Rahmenbedingungen gezielt fördern durch zusätzliche Mittel oder Schulsozialarbeit. Vorhaben zu einer – größer gedachten – inklusiven Bildung sucht man allerdings vergeblich. Die Koalitionäre stellen indessen mehr Qualität in Kindertagesstätten und Ganztagseinrichtungen, einen erneuten Vorstoß, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern und die Einführung einer Kindergrundsicherung in Aussicht.
Und schließlich hat sogar – auch das ist außergewöhnlich – die Lehrer*innenfortbildung Eingang in das Vertragswerk gefunden. Auch sie solle künftig zwischen Bund und Ländern koordiniert werden und kommt – neben der Digitalisierung – in den Rang eines neuen Schwerpunkts der „Qualitätsoffensive Lehrer*innenbildung“ des Bundes. So weit, so begrüßenswert.
Die Gestaltungsansprüche der Bundesebene werden also lauter. Insbesondere bei der Digitalisierung von Bildung und nicht zuletzt durch das händeringende Suchen nach Unterstützung für die pandemiegeplagten Schulen hat sich der Bund als Player in der Schulpolitik viel stärker als in den Jahren zuvor ins Spiel gebracht. Auch das ist, angesichts des föderalen Flickenteppichs und knapper kommunaler Haushalte zu begrüßen.

Wundermittel Digitalisierung?
Der Koalitionsvertrag ist gespickt mit Digitalisierungsthemen. Gleich nach der Präambel wartet er mit dem eigentlichen Digitalisierungskapitel auf, noch vor dem Thema Klimaschutz. Aber auch in allen weiteren Abschnitten spielen digitale Technologien eine bedeutende Rolle: von Justiz und Steuerverwaltung, Klimaschutz, Verkehr und Tourismus, über soziale Versorgung, Gesundheit und Pflege bis hin zu Bundeswehr oder Landwirtschaft.
Bei aller „Digitalisierungseuphorie“, die man hierin sehen mag, hat die neue Regierung immerhin auch kritische Themen aufgegriffen. So enthält der Vertrag klare Aussagen zu Bürgerrechten und IT-Sicherheit. Ermittlungsbehörden und Nachrichtendienste sollen zum Beispiel keine Datensicherheitslücken mehr zurückhalten dürfen. Auch ist der Ton zu Überwachungsfragen ein neuer. So will die Ampel-Koalition keine Videoüberwachung mit Gesichtserkennung sowie keine staatlichen Gegenangriffe auf Hacker. Das politische Programm enthält zudem ein Bekenntnis zu „Open Source“ im öffentlichen Sektor, sowie zum Recht auf Verschlüsselung und zum Recht auf Anonymität.
Dennoch: Insgesamt geraten Digitalisierung und Datafizierung mittlerweile zur berühmten „eierlegenden Wollmilchsau“. Sei es als Transformationsmotor, als Garant für Effizienz und Leistungsfähigkeit oder als Allheilmittel für Probleme aller Art. Derlei Töne sind auch oft aus der Bildungspolitik zu hören, wenn es um Schule geht: Digitalisierung verbessere die Leistung, die Qualität und die Chancengleichheit. Diese Annahmen sind jedoch höchst voraussetzungsvoll und zugleich janusköpfig. Schon seit längerem lässt sich zum Beispiel beobachten, dass das Lernen mit digitalen Medien die Unterschiede zwischen den Schüler*innen sogar noch vergrößern kann.

Soziale Schieflagen
Die neue Regierung will den Digitalpakt bis 2030 verlängern, aufstocken und auf alle Bildungsbereiche ausweiten. Dabei stehen auch nachhaltige Neuanschaffungen, der Austausch veralteter Technik, die Wartung und die Administration im Fokus. Dies sind wichtige Signale, denn der Digitalpakt war weder ausreichend finanziert noch nachhaltig konzipiert. Die Gelder wurden nur schleppend abgerufen, obwohl die Zeit des Pakts im letzten Jahr bereits zur Hälfte abgelaufen war.
Trotz des Digitalpakts und trotz des pandemiebedingten Digitalisierungsschubs klaffen weiterhin enorme Lücken an Schulen. So haben bei einer von der GEW beauftragten Digitalisierungsstudie der Universität Göttingen – fast ein Jahr nach Beginn der Pandemie – nur zwei Drittel der Befragten angegeben, dass es an ihrer Schule W-LAN für alle Lehrkräfte gibt. Nur die Hälfte der Schulen kann W-LAN für die Schülerinnen und Schüler sicherstellen. Als größte Hindernisse für das digitalisierte Lernen geben unsere Kolleg*innen „technische Ausfälle oder Unterbrechungen“ an (64%) sowie „unausgereifte Lehrmaterialien und Lehrkonzepte“ (54%). Nur die Hälfte der Befragten kann zudem bei technischen Problemen auf Unterstützung zurückgreifen. Der am meisten beunruhigende Befund der Studie war jedoch die deutliche Kluft zwischen digital gut aufgestellten Schulen („Vorreiterschulen“) und digital unterdurchschnittlich entwickelten Schulen („Nachzüglerschulen“). Erstere konnten die Potenziale ihrer Schülerinnen weitaus besser fördern. Die Nachzüglerschulen berichteten zusätzlich viel häufiger von höheren Belastungen, fehlenden Lernkonzepten und Hindernissen beim Technikeinsatz. Die digitale Kluft zwischen den Schulen potenziert auch die digitale Kluft unter den Schüler*innen. Das Matthäus-Prinzip „Wer hat, dem wird gegeben“ wohnt dem Digitalpakt allein schon deshalb inne, weil der Bund die Mittel an die Länder nach dem so genannten Königsteiner Schlüssel verteilt, also nach Bevölkerungszahl und Steueraufkommen, statt nach sozialen Indikatoren und Bedarfen. Auch läuft die Mittelverteilung innerhalb der Länder mitunter nicht sozial ausgewogen. Hier muss bei der weiteren Umsetzung des Digitalpakts nachgesteuert werden, damit das Geld dort ankommt, wo es am dringendsten gebraucht wird.
Im Zentrum sollte künftig außerdem stehen, dass digitalisierte Bildungsangebote für alle Menschen leicht zugänglich und nutzbar, pädagogisch anspruchsvoll und barrierefrei sind. In der GEW diskutieren wir deshalb über ein mögliches Konzept der „Digitalen Grundversorgung“. Das wäre eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass das bildungspolitische Versprechen von mehr Chancengleichheit, Bildungsteilhabe und Inklusion durch Digitalisierung überhaupt eingelöst werden kann. Andernfalls droht die Digitalisierung die Ungerechtigkeiten zu vergrößern.
Immerhin findet sich die „digitale Lehrmittelfreiheit für bedürftige Schüler:innen“ auf der Ampel-Agenda. Gemeint ist hier eine Förderung über die Sozialgesetzgebung. Die eigentliche „Lehrmittelfreiheit“ ist Länderthema. Auch wenn dazu also von einer Bundesregierung nicht mehr zu erwarten ist: In Zeiten zunehmend digitalisierter Bildung gehört die Lehr- und Lernmittelfreiheit insgesamt auf den Prüfstand.

Pädagogische Leerstellen
Neben der Überwindung sozialer Schieflagen wäre mittlerweile eigentlich ein gemeinsamer Pakt für Medienkompetenz angezeigt. Das hat auch unsere oben erwähnte Studie gezeigt. Schulen brauchen gute pädagogische, (fach-) didaktische und inklusive Konzepte für das digitalisierte Lernen, um die Digitalisierung wirklich gewinnbringend nutzen zu können. Der Bildungsauftrag von Schulen lautet, junge Menschen auf ihrem Weg zu mündigen, souveränen, kreativen, kritischen und demokratiekompetenten Bürger*innen zu begleiten. Pädagogik, Qualität und Kritik geraten indessen oft aus dem Blick, wenn die Politik – getrieben von der Pandemie, aber auch von Technikglauben, Standortargumenten und Lobbyisten der Digitalindustrie – die Schule der Zukunft am Grad der Digitalisierung misst. Im Koalitionsvertrag wird auch die „Entwicklung intelligenter, auch lizenzfreier Lehr- und Lernsoftware“ angekündigt. Das liest sich auf den ersten Blick gut. Aber angesichts der zunehmenden Algorithmisierung von Bildungsprozessen gehört zur Medienkompetenz auch eine Daten- bzw. datenpolitische Kompetenz für Lernende und Lehrende auf die Agenda. Insbesondere bei algorithmenbasierten Entscheidungs- oder Diagnoseprozessen kann es zu Ausschlüssen oder Diskriminierungen, zur pädagogisch „ungewollten“ Folgen oder gar zur Manipulation kommen. Wie wir Lehrende und Lernende durch diese Herausforderungen navigieren, ist in der Politik und in der Ausbildung von Pädgagog*innen noch nicht angekommen. Wie dem pädagogisch und praktisch beizukommen ist, dafür ist indessen die Initiative UNBLACK THE BOX, für die dieser Beitrag verfasst ist, ein herausragendes Beispiel.
Weitere Regierungsprojekte für die Bildung in der digitalisierten Welt bestehen darin, die Einrichtung einer „Bundeszentrale für digitale Bildung“ zu prüfen, gemeinsam mit den Ländern „Kompetenzzentren für digitales und digital gestütztes Unterrichten in Schule und Weiterbildung“ einzurichten und zu vernetzen, sowie Plattformen für Open Educational Resources (OER) zu unterstützen. Zu den Plänen gehört außerdem die Erstellung von Positivlisten datenschutzkonformer, digitaler Lehr- und Lernmittel.

Digitalisierung: … declare this bazaar open?
Die Formulierungen sind vielfach unverbindlich. Manches war sogar bereits vor der Bundestagswahl beschlossen. Auch fehlen zeitliche Vorstellungen oder Umsetzungsschritte. Das ist von einem Koalitionsvertrag auch nicht unbedingt zu erwarten. Es kommt für die GEW darauf an, die Umsetzung aktiv und kritisch zu begleiten. Bei den „Kompetenzzentren“, Plattformen und Lernmaterialien gilt es, dass sie pädagogisch durchdacht, qualitativ hochwertig, inklusiv und nachhaltig gestaltet sind. Die „Positivlisten“ von datenschutzkonformen, digitalen Lehr- und Lernmitteln sind überfällig. Datenschutzprobleme, die auch vor Corona nicht zufriedenstellend geklärt waren, hatten sich durch den Fernunterricht und den Digitalhype während der Pandemie noch potenziert.
Auch erhielten in den letzten Jahren nicht-staatliche Akteure der EdTech-Industrie immer mehr Einfluss auf entsprechende politische Prozesse und nicht zuletzt auf pädagogische Fragen. Aus Sicht der GEW wäre es daher angezeigt, dass die Bildungspolitik nicht nur für Datenschutz Verantwortung übernimmt, sondern auch für die inhaltliche und pädagogische Qualität sowie für das Eindämmen von privater und lobbyistischer Einflussnahme auf schulische Inhalte und Lernprozesse. Es gilt eben auch zu verhindern, dass pädagogisch oder inhaltlich schlechte Produkte, unausgegorene Plattformen oder unsichere Videokonferenzsysteme Einzug halten. Für die GEW ist wichtig, schulisches Lernen sowie die Kinder und Jugendlichen vor Werbung, Kommerz und Lobbyismus zu schützen. Schulen und Lehrkräfte müssen so ausgestattet und unterstützt werden, dass sie ihren Aufgaben gerecht werden können und dabei nicht auf einen wildwüchsigen privaten Markt von Unterstützung, Technik und Materialien angewiesen sind. Im Zentrum muss der Bildungsauftrag stehen und nicht das Mach-, Mess- oder Verkaufbare.
Für die GEW geht es freilich auch immer um gute Bildung UND gute Arbeit. Das heißt, wir messen die Entwicklungen auch daran, ob sie demokratisch, transparent und mitbestimmt gestaltet werden, ob die Rahmen- und Arbeitsbedingungen stimmen und ob das Wohlbefinden, die Gesundheit und die Sicherheit von Lernenden und Lehrenden berücksichtigt werden.
Ein letzter Blick auf die neue Regierung: Hier liegen drei entscheidende Ressorts – Bildung, Finanzen und Digitales – in FDP-Hand. Bekanntlich hat die FDP keine Schwierigkeiten mit Privatisierung. Ihre Funktionär*innen verstehen unter Chancengleichheit, dass alle die gleichen Angebote erhalten. Sprich: jedem Kind seine Chance, anstatt jedem Kind alle Chancen. Noch hallt zudem Christian Lindners Wahlkampfslogan von 2017 in den Ohren: „Digitalisierung first – Bedenken second“. Es wird also spannend, wie viel sich in den nächsten Jahren auf Bundes- oder Landesebene durchsetzen lässt. Digitalisierung sollte jedoch weder zum Ersatz für eine ideenlose Bildungspolitik oder fehlende Bildungsziele werden noch zum Türöffner für die Schule als Bildungsmarkt.

Martina Schmerr