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Datengetriebene und wissensbasierte KI in der Bildung

Ein Kommentar der UNBLACK THE BOX-Mitglieder Heidrun Allert & Christoph Richter

Mit der Veröffentlichung und sprunghaften Verbreitung von Anwendungen der generativen Künstlicher Intelligenz, wie ChatGPT, DeepL und Gamma, wird viel über den Einsatz von KI in Schule und Hochschule gesprochen. Aber worüber reden wir, wenn wir von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Bildung sprechen? Losgelöst von der aktuellen Auseinandersetzung mit generativer KI und deren möglichen Implikationen für das Bildungssystem, lässt sich die Diskussion um den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Bildung problemlos bis in die 1960er Jahre zurückverfolgen.[1] Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten verschiedenste KI-Anwendungen für den Bildungsbereich entwickelt wurden, liegt ein klarer Forschungs- und Anwendungsschwerpunkt weiterhin im Bereich der sogenannten intelligenten tutoriellen und adaptiven Systeme.

Da intelligente tutorielle und adaptive Systeme (kurz ITS) zentrale Elemente in aktuellen Infrastrukturprojekten, wie etwa der ›Digitalen Vernetzungsinfrastruktur Bildung‹ des BMBF oder dem von der Kultusministerkonferenz beauftragen Projekt ›AIS – Adaptives Intelligentes System‹, darstellen, lohnt zunächst ein kurzer Blick auf die Grundstruktur dieser Systeme.

Die zentrale Idee der ITS ist es, Lernende in ihrem individuellen Lernprozess zu unterstützen. Das System passt dabei Lerninhalte, Übungen und Testaufgaben an die einzelnen Lernenden an. Diese Anpassungen erfolgen auf Basis der vorhergehenden Interaktionen der Lernenden mit dem System und den daraus gewonnen Rückschlüssen auf Lernstände und ›Bedürfnisse‹. Durch die kontinuierliche Anpassung und Auswahl von Inhalten, Übungen und Aufgaben entstehen so personalisierte Lernpfade. Für die technische Realisierung sind sowohl (a) ein Domänenmodell, das den Lerngegenstand beschreibt, (b) ein Lernendenmodell, das den Lernstand sowie lernrelevante Merkmale der Lernenden dokumentiert, (c) ein Instruktionsmodell, das die verfügbaren didaktischen Strategien expliziert, und (d) ein Schnittstellenmodell, das die Eingaben der Lernenden interpretiert und die Darstellung der Ausgaben anpasst, erforderlich.[2] Diese vier Modelle bilden die Grundarchitektur intelligenter tutorieller und adaptiver Systeme (siehe Abbildung 1). Diese Architektur entspricht einem Regelkreis, in dem das Domänenmodell als Sollwert fungiert.

Abbildung 1: Grundarchitektur intelligenter tutorieller und adaptiver Systeme.[3]

Welche Rolle spielt aber nun die Unterscheidung zwischen datengetriebener und wissensbasierter KI in der Bildung? Diese Unterscheidung bezieht sich primär auf die Art und Weise der Modellbildung.

Während auch im Bereich der ITS zunehmend datengetriebene Ansätze der Modellbildung zum Einsatz kommen, basierten entsprechende tutorielle und adaptive Systeme lange Zeit und in Teilen heute noch auf einer wissensbasierten Modellbildung. Die Grundidee wissensbasierter KI-Systeme besteht darin, die entsprechenden Modelle durch die Explikation und Formalisierung vorhandener Wissensbestände zu erzeugen. Durch den Rückgriff auf entsprechende Fachexpertise, z.B. bezüglich des Lerngegenstandes, didaktischer Formate, aber auch der Diagnose von Lernständen, werden diese Systeme auch als Expertensysteme bezeichnet. Durch die explizite Modellierung ist es prinzipiell möglich die Arbeitsweise entsprechender Systeme nachzuvollziehen. Der Rückgriff auf menschliche Expertise hat sich jedoch als sehr aufwändig und nur bedingt skalierbar erwiesen.

Vor dem Hintergrund des immensen Aufwands und der mangelnden Skalierbarkeit ist mit der Verbreitung von Verfahren des maschinellen Lernens in den letzten 10-15 Jahren auch in Bezug auf die Entwicklung von ITS das Interesse an datengetriebenen Formen der Modellbildung drastisch gestiegen. Im Gegensatz zu wissensbasierten Ansätzen erfolgt hier die Modellbildung durch die statistische Analyse großer Datenbestände und die sukzessive Optimierung der Vorhersagequalität anhand vordefinierter Kriterien im Rahmen sogenannter Trainingsprozeduren. Eine theoretische Durchdringung des zu modellierenden Gegenstandsbereichs ist hierfür nicht erforderlich. Anwendungen im Kontext von ITS reichen von der automatisierten Strukturierung des Lerngegenstands über die Analyse und Interpretation des Interaktionsverhaltens der Lernenden bis hin zur Entwicklung und Auswahl von Instruktionsstrategien. Mit der Verfügbarkeit generativer KI hat sich der Trend zum Einsatz datengetriebener Formen der Modellbildung nochmals deutlich verschärft, da nun beispielsweise auch Freitext- und Spracheingaben der Lernenden analysiert, umfangreiche Bestände an Unterrichtsmaterialien automatisch klassifiziert und in personalisierter Form dargeboten werden können.

Datengetriebene und wissensbasierte Ansätze unterscheiden sich sowohl hinsichtlich ihrer Erklär- und Nachvollziehbarkeit als auch hinsichtlich ihrer Möglichkeit, über den Status quo hinauszugehen. Wissensbasierte Ansätze sind datengetriebenen nicht nur in Bezug auf ihre Erklär und Nachvollziehbarkeit überlegen, sie bieten, zumindest prinzipiell, auch die Möglichkeit, über das bestehende hinauszudenken und z.B. theoretisch denkbare oder spekulativ und normativ wünschenswerte Lerninhalte, Interaktionsformen, Kompetenzen oder instruktionale Strategien zu antizipieren. Datengetriebene KI-Systeme sind insofern alles andere als neutral oder demokratisch, da sie immer nur auf Vorhandenes zurückgreifen können, sei es in Form von Lerninhalten, Kompetenzmodellen, instruktionalen Ansätzen oder dem Verhalten von Lernenden. Im Rahmen derartiger Modellbildungsprozesse wird einzig das statistisch Signifikante relevant und das Marginale marginalisiert. Trotz ihrer vermeintlich höheren Objektivität, ist es wichtig, nicht aus dem Blick zu verlieren, dass auch diese Systeme hochgradig ›sozialisiert‹ sind[4] und sich bestehende Ungleichheiten in den Daten reproduzieren[5].

Jenseits dieser Unterschiede ändert der Einsatz datengetriebener KI jedoch nichts an der Grundstruktur intelligenter tutorieller und adaptiver Systeme. Die Idee des Lernens als einem individuellen Prozess, der sich mittels eines Regelkreises steuern lässt, ist die didaktische Prämisse all dieser Systeme – andere (innovative) Konzepte und Ideen über das Lernen werden nicht entwickelt. Dementsprechend liegt ihr Fokus eher auf Anpassung und Kontrolle der Lernenden, als auf kollektiver Entwicklung und Transformation. Damit einher geht  das Leitbild eines gefügigen und lernwilligen Subjekts, das in der folgenden ›User Story‹ exemplarisch zum Ausdruck kommt:

»Als SchülerIn möchte ich … während des gesamten Lernprozesses fachliche, sprachliche und methodische Unterstützung durch das AIS bekommen, indem es meine Eingaben gezielt analysiert und mir Vorschläge für Verbesserungen mit Erklärungen liefert, so dass ich mich an die Hand genommen fühle und meine Fehlvorstellungen revidieren kann.«[6]


[1] Holmes, W., & Tuomi, I. (2022). State of the art and practice in AI in education. European Journal of Education, 57(4), 542–570. https://doi.org/10.1111/ejed.12533

[2] Sottilare, R., Graesser, A., Hu, X., & Holden, H. (Hrsg.). (2013). Design Recommendations for Intelligent Tutoring Systems—Volume 1 Learner Modelling. U.S. Army Research Laboratory.

[3] Butz, C. J., Hua, S., & Maguire, R. B. (2008). Web-Based Bayesian Intelligent Tutoring Systems. In R. Nayak, N. Ichalkaranje, & L. C. Jain (Hrsg.), Evolution of the Web in Artificial Intelligence Environments (Bd. 130, S. 221–242). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-540-79140-9_10 (eigene Übersetzung)

[4] Collins, H. (2024). Why artificial intelligence needs sociology of knowledge: Parts I and II. AI & SOCIETY. https://doi.org/10.1007/s00146-024-01954-8

[5] D’Ignazio, C., & Klein, L. F. (2020). Data feminism. The MIT Press.

[6] FWU – Das Landesinstitut der Medien (2024). Vergabeverfahren AIS: Adaptives Intelligentes System. Anlage 1 Anhang II UserStories. https://www.dtvp.de/Satellite/public/company/project/CXP4YTSHJDB/de/documents