Gast-Kommentar – Newsletter 31.03.2022

Gastkommentar von Heike Deckert-Peaceman und Gerold Scholz

Prof. Dr. Heike Deckert-Peaceman ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Grundschulpädagogik und Kindheitsforschung an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg. Prof. Dr. Gerold Scholz ist emeritierter Professor am Institut für Pädagogik der Elementar- und Primarstufe der Goethe Universität Frankfurt.

Anton Lern-App: Gelehrt werden bestenfalls Wörter, aber keine Begriffe

Anton ist eine Lern-App, die mit Beginn der teilweisen Schulschließungen ab dem Frühjahr 2019 eine große Bedeutung im Schulalltag gewonnen hat. Von der EU mitfinanziert, politisch vielfach beworben und von einschlägigen Lobbygruppen und Lehrerorganisationen positiv besprochen, gehört sie vermutlich zu den am häufigsten verwendeten Lern-Apps.
Sie enthält Aufgaben und Übungen für eine Reihe von Fächern vom 1. bis zum 10. Schuljahr.
Die Aufgabentypen der Vorlagen lassen sich in sechs Gruppen einteilen:

  • Auswahlaufgaben (Multiple Choice, Lückentext, Markieren im Text, Wer wird Millionär)
  • Zuordnungsaufgaben (Paare zuordnen, Zuordnung auf Bildern, Zuordnung auf Landkarte, Gruppenzuordnung usw.)
  • Sequenzaufgaben (Sequenz bzw. Ordnung, Zahlenstrahl)
  • Schreibaufgaben (Lückentext mit Eingabe, Quiz mit Eingabe, Kreuzworträtsel, Hangman, Tabelle ausfüllen)
  • Mehrspieleraufgaben (Order Challenge, Schätzen, Wo liegt was?, Mehrspieler-Quiz)
  • Werkzeuge (App Matrix, Audio/Video mit Einblendung, Chat, Gemeinsames Schreiben, Kalender, Mindmap, Notizbuch, Pinnwand).¹

Wir sind in einem demnächst erscheinenden Buchbeitrag² u.a. zwei Fragen nachgegangen. Erstens: Welches Verständnis von Wissen vermitteln die Aufgaben und in welcher didaktischen Tradition steht dieses Wissensverständnis?
Da es nicht möglich war, alle Fächer und Jahrgangsstufen zu analysieren, haben wir eine genaue Analyse des Faches Sachunterricht im 1. Schuljahr vorgenommen und dort jeden einzelnen Schritt des Programmes zum Themenbereich „Wasser“ betrachtet. Die dort gewonnenen Eindrücke wurden an anderen Fächern und Jahrgängen selektiv überprüft.
In einem zweiten Schritt wurden die Aufgabentypen von Anton mit Aufgabentypen von Schulbüchern seit 1995 zum Thema Wasser für das 1. Schuljahr verglichen.

Welches Verständnis von Wissen vermittelt das Programm
Trotz der scheinbar großen Zahl unterschiedlicher Formate ist Anton nicht interaktiv. Die App erlaubt kein selbstorganisiertes Lernen, keine Selbstbestimmung und auch kaum eine Selbstkontrolle des Gelernten. Die Aufgaben trainieren, Zuordnungen vorzunehmen, ohne die Ordnungen zu erläutern. Am deutlichsten wird dies bei „Click and Drop“ Aufgaben.
Die wesentliche Tätigkeit der Kinder besteht darin, mit der Maus auf ein Bild oder ein Wort zu klicken oder das Bild oder das Wort mithilfe der Computermaus zu verschieben. Das Programm lässt nur „Ja“ oder „Nein“ zu. Rückmeldungen gibt es so wenig wie Schleifen, in denen z.B. „Fehler“  aufgegriffen und die zutreffende Lösung erläutert wird.  Das Prinzip „click and drop“ rahmt die Aufgabe so, dass es unwichtig wird, was falsch oder richtig ist; wichtig wird vor allem voranzukommen, damit das Programm die nächste Seite aufruft.
Gelehrt werden, im besten Fall, Wörter, aber keine Begriffe. Eine der wesentlichen Gründe liegt darin, dass die Aufgaben nichts mit dem Leben, Denken, Wissen oder Fühlen der Kinder zu tun haben.
Das Programm bietet jeweils am Ende einer Einheit einen Test an. Tatsächlich sind diese Tests eigentlich überflüssig, denn die Geschwindigkeit und Richtigkeit der Bearbeitung der einzelnen Aufgaben durch die Schüler*innen wird sekundengenau vom Programm aufgezeichnet. Diese Daten werden den Lehrenden zur Verfügung gestellt.
Die Schüler*innen werden durch das Versprechen, nach Erledigung der Aufgaben Spiele spielen zu dürfen, motivational an das Programm gebunden. Die vermeintlich „spielerische“ Rahmung der Aufgaben blockiert die Auseinandersetzung mit dem Lehrstoff zugunsten der Erhebung von Daten, die es den Lehrenden ermöglichen, die Schüler*innen in Rangreihen zu sortieren.
Die Auswahl der Aufgaben ist weder pädagogisch noch didaktisch begründet und erscheint eher zufällig.  Das Programm, erstellt von Werkstudent*innen, trennt Lernen von seinem Sinn- und Bildungsgehalt und von seinem Emanzipationsanspruch.

Der Vergleich mit älteren Schulbüchern zum gleichen Thema
Wir haben 5 Sachunterrichtsbücher für das 1. Schuljahr zum Thema „Wasser“ aus den Jahren 1995, 1998, 2009, 2013 und 2017 genauer in den Blick genommen. Dabei erkennen wir eine Entwicklung in den Aufgabenstellungen, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Lern-App Anton findet. Deutlich wird eine kontinuierliche Entwicklung der letzten Jahre hin zu einer didaktischen Orientierung an reproduzierbarem Wissen ohne Bezug zur Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen. Während das älteste Schulbuch, (1995), die Kinder auffordert, sich gemeinsam mit dem auseinanderzusetzen, was sie mit Wasser erfahren haben und damit versucht, die Bedeutung von Sachzusammenhängen zu vermitteln, zeigt gerade das jüngste Beispiel (2017), dass es fast nur noch darum geht, vorgegebene Interpretationen zu übernehmen. Hier schließt die Lern-App Anton an und führt es weiter.

Heike Deckert-Peacemen & Gerold Scholz

¹ https://de.wikipedia.org/wiki/LearningApps
² Deckert- Peaceman, Heike/Scholz, Gerold: Individualisierung und Distanzunterricht in der Grundschule – am Beispiel der Lernplattform Anton. Im Erscheinen.