Langfassung Gast-Kommentar 29.04.22

Gastkommentar von Andrea Donath und Ela Eckert

Andrea Donath und Ela Eckert aus dem Vorstand der Deutschen Montesorri Gesellschaft e.V.

Montessori-Pädagogik und die Erziehung und Bildung in einer digitalisierten Welt

Einleitung und Anlass zur Stellungnahme

„Wir erleben zur Zeit die Anfänge eines sich beschleunigenden Prozesses der Einflussnahme auf Erziehung und Bildung durch global agierende Superkonzerne, die Unterricht als Geschäftsfeld entdecken und dabei sind, unser Bild von Schule und Unterricht radikal zu verändern.“ 1

Das Zitat stammt von dem Erziehungswissenschaftler Olaf-Axel Burow, der in den letzten Jahren verschiedentlich Stellung zu einer notwendigen Veränderung der Schule und zu der Rolle bezog, die digitalen Medien in diesem Veränderungsprozess zukommen könnte bzw. sollte. Im Dezember 2021 erschien mit Bezug zu Burow unter der Überschrift „Montessori reloaded: Die Schule der Zukunft baut auf die Digitalisierung des Unterrichts – und auf eine Pädagogik 3.0“ ein Beitrag auf news4teachers.
Der erste und der letzte Satz in diesem Beitrag fassen das dort vertretene Narrativ gut zusammen: „Die Digitalisierung der Schulen schreitet rasch voran. […] Maria Montessori hätte ihre helle Freude daran.“ Wirklich?

Nachdem wir uns als Einzelpersonen und in der Rolle als Vertreterinnen der DMG e.V. (Deutsche Montessori Gesellschaft e.V.) seit Jahren differenziert mit den Vor- und Nachteilen des Einsatzes digitaler Medien im Kontext von Montessori-Bildungseinrichtungen beschäftigt haben, bietet der Beitrag von news4teachers einen willkommenen Anlass, sich von einer undifferenziert digital-euphorischen Sichtweise klar abzugrenzen.
Das Redaktionsteam von news4teachers (ein Autor wird nicht genannt) bezieht sich auf zwei ältere Veröffentlichungen, einmal von Olaf-Axel Burow, einmal von Jakob Chammon. Ein pikantes Detail: In der Originalfassung des Artikels von 12/21 wurde Chammon als Schulleiter einer Montessori Schule vorgestellt, in der korrigierten Fassung 04/21 wird er (ohne Kennzeichnung als Korrigendum) richtigerweise als „ehemaliger Schulleiter […], heute geschäftsführender Vorstand des Forum Bildung Digitalisierung“ vorgestellt. Das unterstreicht unsere Befürchtung, dass die Agenda von Chammon und news4teachers nicht in der Förderung von Montessori-Pädagogik besteht, sondern dass die renommierte Reformpädagogin Maria Montessori hier vor den Karren der Bildungsdigitalisierung gespannt werden soll.
Zum Inhaltlichen: Man kann Burow durchaus recht geben in der Auffassung, dass die Pädagogik des Industriezeitalters, in der Alterskohorten nach einem festgelegten Wissenskanon im Gleichschritt und unter Konkurrenzdruck ohne Rücksichtnahme auf individuelle Voraussetzungen und Bedürfnisse unterrichtet wurden, keinesfalls mehr geeignet sein kann, um Kinder und Jugendliche auf das Leben in der heutigen Welt und in einer demokratischen Gesellschaft vorzubereiten. In Bezug auf die Notwendigkeit zur Veränderung und im zweiten Schritt auch bei den zu erreichenden Verbesserungen können wir den Ausführungen zustimmen. Ja, Lernen in der Schule der Zukunft sollte stärker nach individuellen Voraussetzungen und Interessen möglich sein, die Selbststeuerung eigener Lernprozesse als aktive Auseinandersetzung mit Wissensinhalten sowie das Arbeiten in Teams und eine möglichst optimale Entfaltung des individuellen Entwicklungspotentials sollten verbessert werden. Dass diese Ziele sich hervorragend über den Einsatz moderner digitaler Medien erreichen lassen, wie im Beitrag von news4teachersund in den Bildungsdiskussionen der letzten Jahre zunehmend betont wird, bezweifeln wir ausdrücklich. Aus unserer Perspektive ist das Gegenteil der Fall.

Tatsächlich werden die oben genannten Ziele seit mehr als einhundert Jahren in der Pädagogik Maria Montessoris höchst erfolgreich in mehr als 120 Ländern der Welt und in unterschiedlichsten Kulturen und sozialen Kontexten bereits erreicht. Über viele Jahrzehnte ganz ohne den Einsatz digitaler Medien. Wohl gemerkt: In der Montessori-Pädagogik plädieren wir nicht für die totale Ablehnung digitaler Medien. Aber wir stellen bei der Arbeit mit jungen Kindern, mit Grundschulkindern und mit Jugendlichen gezielt die Frage, worin in der jeweiligen Entwicklungsphase und in Bezug auf den Bildungsprozess eines einzelnen Kinders – eben individuell – der Mehrwert oder der Nachteil einer Nutzung digitaler Medien für die Entwicklung des Kindes/des Jugendlichen bestehen kann und entscheiden uns auf dieser Grundlage gegen den Einsatz und die Nutzung von digitalen Medien, oder für einen auf bestimmte Einsatzbereiche beschränkten Einsatz.

Zusätzlich zu dem Gastkommentar in UNBLACK THE BOX Newsletter möchten wir hier im Folgenden ausführlicher zum Thema „Montessori-Pädagogik und Digitalisierung“ unsere Gedanken ausführen.

Maria Montessoris pädagogisches Konzept ist ein umfassender Gesamtentwurf für die Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen. Ihr Ausgangspunkt war die genaue Beobachtung der physisch-mentalen und psychischen Entwicklung vom Säugling bis zum Erwachsenen, deren Charakteristika und Entwicklungsbedürfnisse sie ein Leben lang in unterschiedlichen kulturellen und sozio-ökonomischen Kontexten untersuchte und beschrieb und als universal vergleichbar erkannte. Worin sah Montessori die Aufgabe der Erziehung?
„Ihr höchstes Ziel muss die Aufwertung der Persönlichkeit und die Entwicklung der Menschheit sein.“ 2

  1. Das Ziel der Erziehung sah sie also einerseits darin, das Entwicklungspotential jedes individuellen Kindes und Jugendlichen allseitig und umfassend zu unterstützen und zu fördern. Darunter verstand sie das Erreichen von physischer Unabhängigkeit in der frühen Kindheit hin zu einer Unabhängigkeit im Denken in der mittleren Kindheit und weiter zur Unabhängigkeit im Hinblick auf Lösungs- und Entscheidungsprozesse der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In diesem Prozess sprach Montessori häufig von Valorisation, gemeint als Stärkung, Aufwertung, Vervollkommnung der Persönlichkeit, die das Individuum in die Lage versetzt, in Kooperation mit anderen in der Gesellschaft verantwortungsbewusst Aufgaben zu übernehmen sowie Lösungsvorschläge und Entscheidungen für das Wohl der Gemeinschaft und einen nachhaltigen Umgang mit der Natur zu erarbeiten. Wesentlich dazu gehört auch, für die sich daraus ergebenden Konsequenzen einzustehen.
  2. Maria Montessori wurde Zeitzeugin dreier Kriege in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Sie war überzeugt davon, dass die gesamte Menschheit als eine gemeinsame Nation zu sehen sei, die viel mehr verbindet als sie trennt und der gemeinsame Aufgaben und Verantwortlichkeiten übertragen sind und betonte: „Wenn wir vom Frieden sprechen, verstehen wir darunter nicht einen partiellen Waffenstillstand zwischen getrennten Nationen, sondern einen Dauerzustand, der die gesamte Menschheit umfasst.“ Die Bemühungen von Politik und Diplomatie zum Erreichen von Frieden erkannte sie durchaus als wichtig an, sah aber über die Entfaltung des Potentials der individuellen Persönlichkeit hinaus das oberste Ziel der Erziehung darin, in Kindern und Jugendlichen in einem gewaltfreien, jahrelangen Prozess die Bereitschaft, die Fähigkeit und den Willen zum Frieden aufzubauen.


Als Antwort auf die Entwicklungsbedürfnisse für jedes Entwicklungsalter (0-6, 6-12, 12-18) entwickelte Maria Montessori ein spezifisches Lernarrangement, das sie ‚Vorbereitete Umgebung‘ nannte. Darin finden Kinder bzw. Jugendliche eine Vielfalt an zielgerichteten Aktivitäten und speziellen Materialien für ihr Lernen, die den jeweiligen Charakteristika und Bedürfnissen entsprechen und geeignet sind, ihre Entwicklung allseitig zu fördern und mit denen sie sich nach eigenem Interesse und in ihrem jeweiligen Lerntempo auseinandersetzen können. Die Freiheit, eigene Wahlen nach inneren Interessen treffen zu können, erkannte Montessori früh als Schlüssel für eine konzentrierte Auseinandersetzung mit einem Lerninhalt und damit für das Ausbilden intrinsischer Motivation und weiterer Lernneugier. Voraussetzung für eine freie und wissende Wahl von Aktivitäten ist eine vorausgegangene sorgfältige Einführung in den Umgang damit durch die Pädagog*innen.

Aber nun zur Frage nach der Nutzung digitaler Medien in der Montessori-Pädagogik und damit zu den Voraussetzungen und Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Altersphasen und den daraus folgenden erzieherischen Konsequenzen.

1. Zur Bedeutung digitalisierter Medien in der frühen Kindheit

Kinder im Alter von 0-6 Jahren charakterisieren große Entwicklungsschübe, die einhergehen mit einer physisch-psychischen Labilität. Sie entfalten das in ihnen angelegte Potential in Auseinandersetzung mit ihrer konkreten Umwelt auf Grund innerer Direktiven – und das in den ersten drei Lebensjahren ganz und gar unbewusst.

Ihre Entwicklungsbedürfnisse im Alter 0-3 Jahren bestehen im Erwerb von kontrollierbaren Bewegungen und Bewegungsmustern, in vielfältigen Sinneserfahrungen, im Spracherwerb und in der Beherrschung unterschiedlichster Handlungsabläufe in einer für sie konkret erfassbaren Umwelt. Ab ca. 3 Jahren erfolgt eine zunehmend bewusste Konsolidierung und Verfeinerung bereits erworbener Fähigkeiten und Fertigkeiten. Den engen Zusammenhang zwischen der Bewegung und der Entwicklung des Geistes erkannte Montessori zu ihrer Zeit sehr deutlich: „Das Kind kann nur denken, wenn es sich bewegt.“
Bildgebende Verfahren der Neurowissenschaften und neue Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie bestätigen heute im Wesentlichen ihre Beobachtungen, auch wenn es – so Renilde Montessori, Enkeltochter Maria Montessoris, in einem Interview – mitunter schwerfalle „Eltern zu erklären, dass die menschliche Spezies seit Tausenden von Jahren unverändert ist und dass sich das universelle Kind trotz äußerer Veränderungen nicht verändert. 3

Junge Kinder verfügen über eine enorme Lebensenergie und eine bemerkenswerte Ausdauer, um Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben, die sie in ihrer konkreten Umgebung beobachten. Sie benötigen aber für ihre Persönlichkeitsentwicklung Zeit, Respekt, Ermutigung und Unterstützung der Erwachsenen um sie herum. Die Möglichkeit, ein Bindungs- und Beziehungsgefüge zu anderen Menschen aufzubauen und das eigene Ich zu etablieren und zu entfalten stellt eine weitere Notwendigkeit dar. Bewältigen Kinder Entwicklungsschritte, wachsen sie daran innerlich, spüren Selbstwirksamkeit und zunehmende Unabhängigkeit. Da junge Kinder vor allem in den ersten 3 Jahren unbewusst alle Umwelteindrücke in sich aufnehmen, ohne sie filtern zu können, sind wir als Erwachsene besonders gefordert, ihnen in positivem Sinn Vorbild zu sein und sie vor negativen Einflüssen zu schützen.

Indem sie bestrebt sind, Kinder ihres Ortes, ihrer Zeit und ihrer Kultur zu werden, haben junge Kinder unbewusst das Bedürfnis, sich auch an die technischen Möglichkeiten ihrer
Kultur anzupassen. Maria Montessori war sehr aufgeschlossen gegenüber dem technischen Fortschritt der Gesellschaft – einerseits. Sie hätte sicherlich den Umgang mit PC und Internet begrüßt, jedoch nicht für junge Kinder. Warum nicht? Sie war überzeugt davon, dass Kinder von 0-6 Jahren intensive Erfahrungen in ihrer konkreten Umgebung benötigen, um sich ‚in ihrer Realität zu verankern‘. Sie brauchen vielfältige Sinneserfahrungen, ausreichend Bewegung und Bewegungskoordination, die ihre Intelligenz und ihre Gesamtentwicklung stark fördern und streben danach, in einem überschaubaren konkreten Umfeld eine erste physische Unabhängigkeit zu erreichen (Motto: „Hilf mir, es selbst zu tun!“).

Zudem erfordert die von Maria Montessori sehr hoch eingeschätzte Entwicklung einer differenzierten Sprache gute Sprechervorbilder und genügend Zeit, in der Kinder Sprachkompetenz erwerben, einüben und differenzieren lernen. Montessori weist ausdrücklich darauf hin, dass mit dem Kind nicht nur viel gesprochen werden müsse, sondern dass Erwachsene, die mit Kindern von 1-2 Jahren zu tun haben, unbedingt wissenschaftliche Erkenntnisse des Spracherwerbs benötigen! Sind die positive Unterstützung der Umgebung und das Sprechervorbild unzureichend, so Montessori, besteht die große Gefahr einer verarmten Sprachentwicklung und damit auch Intelligenzentwicklung mit tiefgreifenden Folgen für das ganze Leben.4
Empirische Forschungsergebnisse zum Spracherwerb bestätigen Montessoris Auffassung.5

Die Frage, ob die Nutzung moderner Technologien für diese Kinder einen Mehrwert darstellt, muss verneint werden. Sie birgt im Gegenteil die Gefahr, das Entwicklungspotential junger Kinder im Bereich der Sensomotorischen Integration, der Intelligenzentwicklung und des Spracherwerbs zu gefährden bzw. einzuschränken. So ist Bewegung „ein integraler Bestandteil unserer kognitiven Fähigkeiten und die Grundlage für die Entwicklung des Geistes, wie zahlreiche Studien gezeigt haben, die die Funktion und Bedeutung der motorischen Bereiche in der Physiologie des Gehirns neu bewertet haben.“ 6 Der frühe Kontakt mit digitalen Medien begrenzt die so wichtige Verankerung der Kinder in der Realität.

2. Zur Bedeutung digitalisierter Medien in der mittleren Kindheit

Und wie beurteilt man in der Montessori-Pädagogik die Verwendung digitaler Technologien in der mittleren Kindheit? Kinder im Alter von 6-12 Jahren charakterisiert nach Maria Montessori eine physisch-psychisch ruhige Weiterentwicklung, eine enorme Wissensneugier, zunehmende Abstraktionsfähigkeit und eine starke Imaginationskraft. Sie streben danach, sich eine große Menge Wissen, das nicht mehr sinnlich erfahrbar ist, anzueignen, möchten den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung erkennen und ihren bisher engen Aktionsradius deutlich erweitern. (Motto: „Hilf mir selbst zu denken!“).

Kinder der mittleren Kindheit wollen sich vielfältige Informationen zugänglich machen; sie interessieren sich für die Entstehung des Universums und der Erde, für den Beginn des Lebens auf unserem Planeten oder die Lebensbedingungen früher Menschen ebenso wie für Erfindungen, Entdeckungen und wissenschaftliche Erkenntnisse im Lauf der menschlichen Zivilisation.
Als adäquate Antwort auf die große Weltneugier dieser Kinder entwarf Maria Montessori das Fächer übergreifende Konzept einer Kosmischen Erziehung, das Kinder mit Hilfe panoramaartiger, inspirierender Erzählungen (Cosmic Tales) in die großen Kontexte der Entstehung des Universums, der Evolution des Lebens, der Entwicklung des Menschen und die Kulturen-übergreifende Entstehung der Schrift und der Zahlen einführt. Die Erzählungen öffnen den Kindern auf spannende Weise große Fenster des Wissens und lassen ihnen die Wahl, sich nach ihren Interessen, ihrem Forschergeist folgend mit Hilfe von passenden Schlüsselmaterialien Details dieser Panoramen zu erschließen – und diese jeweils als Teile des großen Panoramas zu verstehen. In diesem Prozess kommt den Lehrkräften dieser Kinder als ‚inspirierenden Generalisten‘ die wichtige Aufgabe zu, Zusammenhänge spannend und altersgemäß zu erzählen und zu erklären und Kinder zu eigenem Weiterforschen zu inspirieren und dabei zu begleiten. Dabei ist die Kosmische Erziehung geeignet, um Kinder vielfältige Vernetzungen eines alle Fächer integrierenden Kontextes erkennen zu lassen.
Für das forschende Lernen der Kinder der mittleren Entwicklungsphase kann sicherlich die dosierte Nutzung digitaler Technologien als Werkzeug sinnvoll sein (z.B. um Dokumente, Excel-Tabellen und PowerPoint-Präsentationen zu erstellen, zum Erlernen des 10-Finger-Schreibens auf der Tastatur oder zum einfachen Programmieren). Dies setzt aber voraus, dass sie als Werkzeuge verstanden und die Kinder auf der Grundlage ihrer Charakteristika im Lernen und Verstehen mit diesen Werkzeugen vertraut gemacht worden sind, z. B. durch die Vorgehensweise auf der Ebene der „Analog-Digidaktik“.
Unter „Analog-Digidaktik“ verstehen wir ”medienpädagogische und informatische Lernwege, die auf Medien ohne Bildschirm zurückgreifen, was den Vorteil der erhöhten Durchschaubarkeit und Begreifbarkeit bietet.7
Andererseits kann für diese Kinder viel spannender sein, sich mit der Geschichte der Technologie auseinanderzusetzen (inspiriert durch eine einführende Erzählung, eine Zeitleiste, kleine Erzählungen zu den verschiedensten Erfindungen (z.B. Buchdruck, Schreibmaschine, Telefon, Computer etc.). Kinder können Recherchen zu solch bahnbrechenden Erfindungen und den Persönlichkeiten, die die technische Entwicklung vorangebracht haben, durchführen. Selbst Erfahrungen zu sammeln etwa im Drucken mit beweglichen Lettern oder im Schreiben auf einer Schreibmaschine oder bei ‚Going Outs‘ in kleinen Teams außerhalb der Schule Menschen zu interviewen, die über diese Techniken Authentisches berichten können oder in einschlägigen Museen nach Informationen zu forschen, regt den Forschergeist an. Fertige Antworten im Internet drohen ihn durch Informationsüberflutung in dieser Altersstufe eher zu drosseln. Es ist daher in diesen Zusammenhängen stets die Frage zu beantworten: Bietet das digitale Werkzeug / Programm, das die Lehrkräfte im Blick haben mögen, eine klare Möglichkeit für intrinsisch motiviertes und konzentriertes Arbeiten für die Kinder? Stellt es also tatsächlich einen Mehrwert dar? Erscheint dieser Mehrwert im Vergleich zu den Nachteilen (erhöhte Bildschirmzeit der Kinder, bei ohnehin die Empfehlungen weit überschreitenden Nutzungszeiten, ökologische Aspekte wie Strom- und Ressourcenverbrauch durch Geräte, etc.) in einer Abwägung überwiegend? Für die weit verbreiteten „gamifizierten“ Lernumgebungen, die Burow anpreist, wird diese Frage allein schon aufgrund der externen Anreizstrukturen zu verneinen sein, ebenso in den meisten Fällen für den Einsatz als Schlüsselmaterialien, da das eigene Erforschen multisensorisch besser möglich ist. Für den o.g. Einsatz als Werkzeug zur Dokumentation wird die Frage – immer im Vergleich mit den etablierten analogen Dokumentationsmöglichkeiten – teilweise zu bejahen sein.

3. Zur Bedeutung digitalisierter Medien im Jugendalter

Das Alter der 12-18Jährigen – und da vor allem die frühe Adoleszenz bis etwa 15 Jahre – charakterisierte die Ärztin Maria Montessori als eine Zeit physisch-psychischer Labilität, geprägt von großen Entwicklungsschüben und dem Bedürfnis nach Selbständigkeit in Gruppen von etwa Gleichaltrigen und Abstand von der Ursprungsfamilie. „Jugendliche brauchen eine Schule, die keine Schule ist“ konstatierte sie früh und entwickelte das Konzept eines ‚Studien- und Arbeitszentrum auf dem Lande‘ mit den Komponenten
Wohnhaus, Bauernhof/Farm, Geschäft, Gasthaus, Maschinenmuseum und Schule. Dieses Setting bildet die gesellschaftlichen Grundstrukturen von Produktion, Handel und Dienstleistungen in einem für die Jugendlichen überschaubaren, transparenten und zugleich geschützten Rahmen ab, in dem in Abhängigkeit von dem jeweiligen Ort und der Kultur, in der es angesiedelt ist, eine Vielfalt realer Arbeitsabläufe, Absatzmöglichkeiten von Produkten und Erfahrungen mit Dienstleistungen kennengelernt und eingeübt werden können. Angeleitet durch Erwachsene mit einem besonderen Interesse für Adoleszenten und mit Spezialkenntnissen unterschiedlicher Disziplinen werden die Jugendlichen in Arbeitsprozesse eingeführt, übernehmen echte Verantwortung, erarbeiten praktische Fertigkeiten und theoretische Hintergründe der Prozesse in den Bereichen Pflanzenanbau, Ernte sowie Tierhaltung, Vermarktung von Produkten und Umgang mit erwirtschafteten Finanzen.
Im Vordergrund stand für Montessori dabei die Notwendigkeit zur Stärkung der Persönlichkeit Jugendlicher (Valorisation) durch gemeinsames Leben und Arbeiten sowie das gemeinsame Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit und Partizipation an real in
der Gesellschaft bestehenden Arbeits- und Entscheidungsprozessen. Etliche dieser Ziele lassen sich gut auch in einem städtischen Umfeld erreichen, wie das Beispiel der Göttinger Montessori-Sekundarschule zeigt.8

Für Jugendliche ist sicherlich die Nutzung moderner Technologien als Werkzeug unerlässlich. Aber auch hier ist stets die Frage nach dem Mehrwert zu beantworten. Eine Reihe von Aussagen Montessoris sehen wir in diesem Zusammenhang als wegweisend:

  1. Schon 1932 wies Maria Montessori eindringlich darauf hin, dass eine große Diskrepanz entstanden sei zwischen den Möglichkeiten, die die technische Entwicklung bietet und den Gefahren, die sich für die Menschen und die Gesellschaft daraus ergeben. „Der Mensch schläft mit all seinen Erfindungen und Errungenschaften am Rande eines Abgrunds. Er muss seinen Blick vom Außen der eroberten Welt zurückwenden auf sein zurückgebliebenes Inneres,“ mahnte sie. Die Diskrepanz zu überwinden zwischen dem, was technisch möglich und dem, was verantwortbar sei, setze eine moralische Erziehung junger Menschen während eines langen Erziehungsprozesses voraus, in der die nach ihrem Verständnis intrinsische Kraft des Kindes zu Moral und Gewissen bei jungen Menschen erheblich gestärkt, modelliert, ausgebaut werden müsse.
    Das könne einerseits durch das Zusammenleben der Jugendlichen in einem Arrangement wie dem oben angedeuteten erzielt werden. Die Studien von Jugendlichen im Rahmen des ‚Erdkinderplan‘ genannten Konzepts zum menschlichen Fortschritt und zum verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen und Technologien sowie die Auseinandersetzung mit Persönlichkeiten, die im Lauf der Geschichte durch Erfindungen, Entdeckungen, wissenschaftliche Forschungen oder durch ihr Denken die kulturelle Entwicklung maßgeblich beeinflussten, ihre Motive und die gesellschaftliche Realität, in der sie handelten, hielt Montessori für eine weitere wichtige Quelle für die Ausbildung eines komplexen Wertesystems, mit dem junge Erwachsene schließlich in der Lage sein würden, souverän begründete Entscheidungen zu treffen, sie gegenüber sich selbst und anderen gegenüber zu vertreten und für sie einzustehen. Eine hohe Moralauffassung sah Montessori als unbedingt notwendig für eine verantwortungsbewusste Partizipation in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft an. Also, moderne Technologien ja, aber mit großem Verantwortungsbewusstsein!
  2. An anderer Stelle heißt es bei ihr: „Das Übel, an dem unsere Zeit krankt, kommt aus dem gestörten Gleichgewicht, das aus dem unterschiedlichen Entwicklungsrhythmus des Menschen und der Maschine resultiert. Die Maschine hat sich beschleunigt entwickelt, während der Mensch zurückgeblieben ist. So lebt der Mensch in Abhängigkeit von der Maschine, obwohl er sie beherrschen müsste.” 9 Die Verwendung digitaler Medien hätte Montessori bestimmt für wichtig gehalten – aber ganz sicher eng verknüpft mit der Frage, die heutige Montessori-Praktiker*innen mit Jugendlichen gründlich erörtern müssen: Welchen Mehrwert erreicht man in welchem Zusammenhang durch digitale Medien? Und wie erwirbt man einen kritischen Umgang mit ihnen?
  3. Über diese Aspekte hinaus war Montessori überzeugt davon (und auch in dieser Hinsicht ihrer Zeit weit voraus), dass sich über die zukünftige Gesellschaft wenig Konkretes vorhersagen lasse und dass daher die Stärkung der Persönlichkeit der Jugendlichen die bestmögliche Voraussetzung dafür sei, sich den Herausforderungen ihres Erwachsenenlebens stellen zu können: „Unter diesen sozialen Bedingungen müssen wir uns daran erinnern, dass der einzig sichere Führer der Erziehung darin besteht, die Personalität der Kinder zu fördern. Man muss folglich die menschliche Personalität für alle unvorhergesehenen Eventualitäten vorbereiten, und zwar nicht nur unter dem Aspekt derjenigen Bedingungen, die man mit kluger Voraussicht vorhersehen kann.“ 10 Welch vorausschauende Einsicht aus der Perspektive der 1930er-Jahre, die sich in unserer noch viel schnelllebiger gewordenen und immer stärker digitalisierten Zeit als erst recht wichtig erweist!

Persönlichkeitsentwicklung als Vorbereitung auf eine ungewisse (Technik)-Zukunft
Im November 2021 hielt Mario Valle auf dem Kongress der Deutschen Montessori Gesellschaft einen viel beachteten Vortrag zum Thema ‚Montessori-Pädagogik und neue Medien‘. Valle arbeitet in Genf am ‚Centro Svizzero di Calcolo Scientifico‘ (CSCS), wo er Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen bei der Visualisierung von Big Data unterstützt. Der Umgang mit modernsten technischen Medien ist also sein tägliches Brot und das seiner Kolleginnen aus mehr als 20 Nationen. Daneben ist er Montessori-Vater und als solcher vertraut mit den Prinzipien der Montessori-Pädagogik. In der Zusammenfassung seiner Ausführungen gelangte er zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen wie seinerzeit Maria Montessori: In einer Zeit, in der das technische Wissen innerhalb von sechs Monaten veralte, mache es keinerlei Sinn, Kinder auf eine Technologie der Zukunft vorbereiten zu wollen, über die niemand heute etwas wisse. Viel wichtiger sei eine Schule, die Kinder und junge Menschen erzieht mit engagierten Lehrkräften „… die mit Hilfe der ‚nützlichen Spielzeuge‘ [gemeint sind die Montessori-Materialien] von Maria Montessori diesen Bewohnerinnen der Zukunft hilft, die Persönlichkeit zu entwickeln, die sie in die Lage versetzt, jede Technologie richtig zu nutzen.“ 11

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1 Burow, Olaf-Axel (2017): Bildung 2030 – Sieben Trends, die die Schule revolutionieren werden. Weinheim: Beltz Verlag
2 Montessori, Maria: Die Form, die die Erziehung annehmen muss, um unter den gegenwärtigen Umständen der Welt helfen zu können. In: Montessori, Maria: Die Macht der Schwachen, 3. Vortrag, des 3. Internationalen Montessori-Kongresses 1937 in Kopenhagen
3 Zitiert nach Valle, Mario (2021): Montessori-Pädagogik und neue Medien. In: DAS KIND, Heft 70-71
4 Montessori, Maria (1972): Das kreative Kind. Freiburg/Br.: Verlag Herder, S.114
5 Vgl. z.B. Szagun, Gisela (2016/6): Sprachentwicklung beim Kind. Weinheim: Beltz Verlag
6 Valle, Mario (2022): Montessori-Pädagogik und neue Medien. In: DAS KIND, Heft 70-71, S.49
7 vgl. Csunplugged.org; Bleckmann, P. und Pemberger, B. (2021). Bildung und Digitalisierung – Technikfolgenabschätzung und die Entzauberung „digitaler Bildung“ in Theorie und Praxis In: Schmiedchen, F., Kratzer, K.P., Link, J., Stapf-Finé, H. (Hrsg.): Wie wir leben wollen. Kompendium zu Technikfolgen von Digitalisierung, Vernetzung und Künstlicher Intelligenz. Logos Verlag Berlin, S. 191-210.
8 Möller, Wiebe (2020): Ein urbaner Kompromiss: Der Erdkinderplan in der Montessori-Schule in Göttingen. In: Eckert, Ela (2020): Erdkinderplan-Maria Montessoris Erziehungs- und Bildungsplan für Jugendliche. Freiburg/Br.: Verlag Herder, S.146-160
9 Montessori, Maria (1939/1948): Studien- und Arbeitsplan. In: Von der Kindheit zur Jugend, S. 130
10 Montessori, Maria (1939/1948), A.a.O., S. 102
11 Valle, Mario (2022): Montessori-Pädagogik und neue Medien. A.a.O. S.57-58